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BVerfG sorgt für Waffengleichheit im Verfügungsverfahren

Update Gewerblicher Rechtschutz & Kartellrecht 12/2018

Dezember 2018

Die im Presserecht, im Wettbewerbsrecht und im Gewerblichen Rechtsschutz verbreitete Praxis, einstweilige Verfügungen ohne mündliche Verhandlung und Anhörung des Gegners zu erlassen, erfährt aufgrund zweier Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 30. September 2018 bedeutende Einschränkungen. Auch die von einigen Gerichten noch praktizierten „Schubladenverfügungen“ – also Verfügungen ohne vorherige Abmahnung – wird es zukünftig kaum noch geben.

Das BVerfG hat mit den beiden Beschlüssen deutliche Kritik an der Verfahrenspraxis von Gerichten beim Erlass einstweiliger Verfügungen in Pressesachen geäußert. „Ein einseitiges Geheimverfahren über einen mehrwöchigen Zeitraum, in dem sich Gerichte und Antragsteller über Rechtsfragen austauschen, ohne den Antragsgegner in irgendeiner Form einzubeziehen“, sei mit den Verfahrensgrundsätzen des Grundgesetzes unvereinbar. Das sind ungewöhnlich klare Worte. Schaut man sich die Beschlüsse näher an, haben sie Konsequenzen auch für die Praxis des Erlassverfahrens in anderen Rechtsgebieten wie dem Gewerblichen Rechtsschutz und dem Wettbewerbsrecht.

Gegenstand der Beschlüsse des BVerfG

Gegenstand der Beschlüsse sind einstweilige Verfügungen der Landgerichte Köln und Hamburg. Im Kölner Verfahren (BVerfG – Az. 1 BvR 1783 / 17 –) ging es um eine Unterlassungsverfügung, die eine Online-Veröffentlichung eines journalistischen Recherche-Netzwerks betraf. Das Landgericht Köln hatte die Verfügung erlassen, obwohl dem Verfügungsantrag keine vorprozessuale Abmahnung vorausgegangen war. Im Hamburger Verfahren (BVerfG – Az. 1 BvR 2421 / 17 –) ging es um eine Gegendarstellungsverfügung gegen einen Zeitschriftenverlag, die erst Monate nach der Zuleitung einer ersten Fassung der Gegendarstellung erlassen wurde, und dies nach Durchführung von insgesamt drei Gegendarstellungsverfahren ohne Beteiligung des Verlags. Hier hatte es in einem dieser Verfahren überdies ein Telefonat zwischen einem Richter und dem Antragstellervertreter gegeben, das dieser im darauffolgenden Verfahren für sich verwerten konnte – ohne dass der Antragsgegner hiervon in Kenntnis gesetzt wurde.

In beiden Verfahren hatten die Antragsgegner unmittelbar gegen den Erlass der Verfügung Verfassungsbeschwerde eingelegt und unter anderem die Feststellung beantragt, dass der Erlass ihre Rechte auf rechtliches Gehör und prozessuale Waffengleichheit verletze. Den Feststellungsanträgen hat das BVerfG mit im Wesentlichen inhaltsgleichen Begründungen stattgegeben. Obwohl der Rechtsweg nicht erschöpft war, konnten die Verfassungsbeschwerden ausnahmsweise unmittelbar gegen die einstweiligen Verfügungen erhoben werden, weil die geltend gemachten Grundrechtsverletzungen vor den Fachgerichten nicht wirksam angegriffen werden können.

Vorgaben des BVerfG zur Wahrung der prozessualen Waffengleichheit

Nach Auffassung des BVerfG verletzen die angefochtenen Entscheidungen die Beschwerdeführer in ihrem grundrechtsgleichen Recht auf prozessuale Waffengleichheit aus Art. 3 I i. V. m. Art. 20 III GG. Dieser Grundsatz gebiete es, in einem gerichtlichen Verfahren der Gegenseite grundsätzlich vor einer Entscheidung Gehör zu gewähren. Das sei nur in Ausnahmefällen verzichtbar, etwa wenn die Gehörsgewährung den Zweck des Verfahrens vereiteln würde. Jedenfalls in Fällen, in denen es um eine bereits veröffentlichte Äußerung gehe, bestehe regelmäßig kein Grund, von einer Anhörung des Antragsgegners vor dem Erlass einer einstweiligen Verfügung abzusehen. Zwar sei bei Dringlichkeit eine mündliche Verhandlung verzichtbar, erforderlich sei dann aber eine zügige Verfahrensführung. Wenn sich im Verlauf des Verfahrens zeige, dass eine unverzügliche Entscheidung nicht zeitnah ergehen könne, sei eine mündliche Verhandlung anzuberaumen.

Eine Entscheidung ohne Verhandlung im Beschlusswege komme nur in Betracht, wenn die Gegenseite zuvor die Möglichkeit gehabt habe, auf das mit dem Antrag geltend gemachte Vorbringen zu erwidern, was etwa durch vorprozessuale Stellungnahme oder Hinterlegung einer Schutzschrift geschehen könne. Unter Beachtung des Grundsatzes der prozessualen Waffengleichheit seien ausreichende Erwiderungsmöglichkeiten nach Antragstellung nur dann gegeben, wenn der Verfügungsantrag im Anschluss an die Abmahnung unverzüglich eingereicht werde, die abgemahnte Äußerung und die Begründung des Unterlassungsbegehrens identisch seien und ein etwaiges Zurückweisungsschreiben der Gegenseite zusammen mit der Antragsschrift bei Gericht eingereicht werde. Dem Antragsgegner müsse demgegenüber vor Erlass in jedem Fall Gehör gewährt werden, wenn er zuvor nicht abgemahnt wurde, der Antrag anders oder gegenüber der Abmahnung ergänzend begründet wird oder wenn das Gericht dem Antragsteller Hinweise erteilt. Sichergestellt sein müsse, dass der Antragsgegner vor Erlass einer Entscheidung in den gleichen Kenntnisstand versetzt wird wie der Antragsteller. Auch im Fall der Ablehnung eines Antrags seien etwaige Hinweise dem Antragsgegner unverzüglich mitzuteilen.

Das BVerfG hat hiermit Vorgaben formuliert, die die Gerichte in presserechtlichen Verfügungsverfahren künftig zu beachten haben. Das bedeutet gerade für die regelmäßig angerufenen Spezialkammern eine Umstellung ihrer bisherigen Praxis. Diese sah mitunter so aus, dass dem Antragsteller durch telefonische Hinweise (auch mehrfach) Gelegenheit gegeben wurde, sein Vorbringen zu ergänzen, eine hinreichende Glaubhaftmachung nachzuholen und (in Unterlassungssachen) Anträge so zu stellen, dass sie den Vorstellungen des Gerichts zum Verbotsumfang entsprachen – all das, ohne dass der Antragsgegner hiervon Kenntnis hatte. Eine solche Kommunikation zwischen Gericht und Antragsteller konnte sich durchaus über Monate hinziehen, bis es zum Erlass einer Verfügung kam. Für den Antragsgegner kam deren Zustellung dann geradezu aus scheinbar wieder heiterem Himmel.

Konsequenzen für Verfügungsverfahren im Gewerblichen Rechtsschutz, Urheber- und Wettbewerbsrecht

Die Beschlüsse des BVerfG haben unmittelbare Auswirkungen auch auf das Urheber- und das Wettbewerbsrecht sowie den Gewerblichen Rechtsschutz (in Marken-, Design- und Patentrechtsangelegenheiten). Denn die Anforderungen sind verfahrenstechnischer Natur und damit unabhängig vom Rechtsgebiet. Und die vom Verfassungsgericht kritisierte Praxis ist nicht nur im Presserecht verbreitet: Auch in Verfügungsverfahren des Gewerblichen Rechtsschutzes und des Wettbewerbsrechts werden einstweilige Verfügungen in der Regel ohne vorherige mündliche Verhandlung erlassen. Und auch hier melden sich Gerichte bei Rückfragen oder Bedenken – häufig telefonisch – beim Antragsteller und geben ihm die Möglichkeit, seinen Antrag zu modifizieren, ihn „nachzubessern“ oder zurückzunehmen, ohne den Antragsgegner darüber zu informieren.

Diese Praxis war im Sinne eines zügigen und effektiven Rechtsschutzes zwar häufig zu begrüßen, auch weil sie dem Antragsgegner verwehrt, Verfahren durch Fristverlängerungsanträge, zahlreiche oder längliche Stellungnahmen und / oder Terminverlegungsanträge hinauszuzögern. Sie wird in dieser Form aber nicht mehr möglich sein. Wie zu hören ist, machen sich daher auch viele auf das Wettbewerbsrecht und den Gewerblichen Rechtsschutz spezialisierte Kammern bereits Gedanken, wie die Rechtsprechung des BVerfG umzusetzen ist.

Zukünftig werden Gerichte eine einstweilige Verfügung ohne Einbeziehung des Antragsgegners nur noch erlassen können, wenn sie den Antrag so, wie er eingereicht wurde, für begründet erachten. In anderen Fällen müssen sie entweder dem Antragsgegner die Möglichkeit der Stellungnahme geben oder aber den Antrag (ganz oder teilweise) zurückweisen. Dabei könnten sie dem Antragsteller wohl zuvor die Möglichkeit geben, den Antrag ganz oder teilweise zurückzunehmen. Aber auch in Fällen, in denen ein Gericht keine inhaltlichen Bedenken hat, aufgrund der Komplexität der Angelegenheit und des Umfangs des Antrags aber länger als üblich Zeit benötigt, um die Sache zu entscheiden, wird es den Gegner früher oder später einbeziehen müssen.

Unklar bleibt allerdings, ab welcher Art von Bedenken die Gerichte den Gegner informieren müssen: schon wenn eine Anlage zum Antrag (z. B. eine eidesstattliche Versicherung) fehlt? Wenn das Gericht den Antrag zwar eigentlich für überzeugend hält, aber noch keine ausreichenden Glaubhaftmachungsmittel vorliegen, die der Antragsteller unter Umständen nachreichen kann? Oder erst, wenn das Gericht substanzielle Zweifel an der Begründetheit hegt?

Die von einzelnen Gerichten noch praktizierte Verfahrensweise, eine einstweilige Verfügung sogar ohne vorherige Abmahnung zu erlassen, wird nur noch in absoluten Ausnahmefällen möglich sein. Das BVerfG nennt hier beispielhaft Fälle, in denen eine vorherige Anhörung des Gegners den Zweck des Verfahrens vereiteln würde, wie z. B. im Arrestverfahren, bei der Untersuchungshaft oder bei Wohnungsdurchsuchungen. Dazu dürften auch Fälle von Produktpiraterie zählen oder andere Verletzungsfälle, in denen die Gefahr besteht, dass der Gegner die rechtsverletzenden Waren oder Gegenstände nach Erhalt einer Abmahnung beiseiteschafft, und daher mit der Verfügung ein Überrumpelungseffekt erzielt werden soll (z. B. bei Beschlagnahmeanordnungen).

Die vom BVerfG kritisierten „Geheimverfahren“ dürften aber der Vergangenheit angehören. So sehr dies unter dem Gesichtspunkt der Verfahrensgerechtigkeit zu begrüßen ist, so misslich ist es in vielen Fällen für Rechteinhaber und für von unlauteren Geschäftspraktiken betroffene Unternehmen. Es bleibt zu hoffen, dass die Gerichte in diesen Fällen einen Weg finden, dem BVerfG zu folgen, ohne Antragsgegnern die Möglichkeit zu geben, eilige Verfahren unangemessen hinauszuzögern.

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Dr. Nikolas Gregor, LL.M. (Boston Univ.), Maître en droit
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