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Deutsche Mitbestimmung auf dem Prüfstand

Status der Gerichtsverfahren zur Vereinbarkeit der deutschen Unternehmensmitbestimmung mit Europarecht

Oktober 2016

Entscheidungen des LG Frankfurt vom 16.02.2015 und des KG Berlin vom 16.10.2015

Wir hatten bereits über den Beschluss des LG Frankfurt vom 16.02.2015 (Az. 3-16 O 1/14) berichtet, der speziell Unternehmen mit Arbeitnehmern und Tochtergesellschaften im europäischen Ausland betrifft. Bekanntlich hatte das LG Frankfurt in einem Statusverfahren der Deutschen Börse AG zur Zusammensetzung des Aufsichtsrates entschieden, dass – entgegen der h.M. – dem Hilfsantrag des Klägers stattzugeben sei, weil sowohl die im Ausland beschäftigten Arbeitnehmer der Deutschen Börse AG als auch Arbeitnehmer von deren ausländischen Tochterunternehmen für die Schwellenwerte der Unternehmensmitbestimmung berücksichtigt werden müssten. Dies hatte das LG Frankfurt einer Auslegung des Wortlautes des Drittelbeteiligungsgesetzes (DrittelBG) und des Mitbestimmungsgesetzes (MitbestG) entnommen: Diese enthielten keine Beschränkung auf im Inland beschäftigte Arbeitnehmer. Nach dieser Entscheidung des LG Frankfurt wäre der Aufsichtsrat der Deutschen Börse AG unrichtig zusammengesetzt, weil er aufgrund der Arbeitnehmerzahl in Deutschland (1.624) nach dem DrittelBG nur zu einem Drittel aus Arbeitnehmervertretern besteht. Stattdessen sei der Aufsichtsrat wegen der insgesamt in Europa beschäftigten 3.811 Arbeitnehmer paritätisch nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 MitbestG aus je sechs Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zu bilden.

Den Hauptantrag des Klägers wies das LG Frankfurt ab. Dieser richtete sich auf die Feststellung, das DrittelBG gar nicht anzuwenden, weil dieses Gesetz das aktive und passive Wahlrecht auf inländische Arbeitnehmer beschränke und damit gegen Europarecht verstoße. Deshalb sollte sich der Aufsichtsrat auf Wunsch des Klägers ganz ohne Arbeitnehmervertreter zusammensetzen. Das LG Frankfurt sah die Frage der Unionsrechtmäßigkeit der Wahlvorschriften des DrittelBG nicht als entscheidungserheblich an, weil sie nur in einem Wahlanfechtungsverfahren, nicht aber in einem Statusverfahren gestellt werden könne.

Das KG Berlin dagegen hat ebenfalls in 2015 im Statusverfahren betreffend die TUI AG durch Beschluss vom 16.10.2015 (Az. 14 W 89/15) das Verfahren dem EuGH mit der Frage vorgelegt, ob der Ausschluss des aktiven und passiven Wahlrechts für Arbeitnehmer ausländischer Konzernunternehmen gegen Art. 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) verstoße.

Das OLG Frankfurt/Main als Beschwerdegericht des Frankfurter Verfahrens hat mittlerweile eine Zwischenentscheidung getroffen: Es hat am 17.06.2016 (AZ. 21 W 91/15) beschlossen, das Verfahren auszusetzen, bis der EuGH über die Vorlagefrage des KG Berlin entschieden hat. Vom EuGH ist zu hören, dass mit einem Gutachten des Generalanwaltes im Winter 2016/2017 und mit einer Entscheidung des EuGH im Laufe des Jahres 2017 zu rechnen sei.

Im Folgenden geben wir einen kurzen Überblick über die wichtigsten Fragen und Antworten:

1. Worum geht es?

Auf dem Prüfstand steht die Frage, ob die deutsche Unternehmensmitbestimmung mit Europarecht vereinbar ist. Vergleichbare Statusverfahren werden derzeit in einer Reihe von Fällen geführt. Dabei geht es vor allem um zwei unterschiedliche Aspekte:

  • Zum einen ist zu klären, ob im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer eines Konzerns bei den Schwellenwerten für das Eingreifen von Mitbestimmung (mehr als 2.000 AN nach dem MitbestG und mehr als 500 AN nach dem DrittelBG) zu berücksichtigen sind.
     
  • Zum anderen stellt sich die Frage, ob der Ausschluss von im Ausland beschäftigten Arbeitnehmern eines Konzerns vom aktiven und passiven Wahlrecht bei der Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat des deutschen Unternehmens unionsrechtswidrig ist.

Beide Fragen müssen keineswegs in gleicher Weise beantwortet werden. Es ist ohne weiteres möglich, ausländische Arbeitnehmer für die Schwellenwerte mitzuzählen, ohne ihnen zugleich ein aktives oder passives Wahlrecht in Deutschland zu geben. Um das aktive und passive Wahlrecht geht es aber im Vorlageverfahren des KG Berlin.

Das OLG Frankfurt/Main nimmt in seinem Beschluss vom 17.06.2016 im Statusverfahren gegen die Deutsche Börse AG eine Verknüpfung beider Fragen vor: Es meint, eine Unionsrechtswidrigkeit der deutschen Mitbestimmungsregelungen könne wegen der Nichtberücksichtigung ausländischer Arbeitnehmer „allenfalls“ bei der Annahme eines passiven Wahlrechts ausländischer Arbeitnehmer in Betracht kommen. Daher müsse das Verfahren bis zu einer EuGH-Entscheidung auf die Vorlage des KG Berlin in der TUI-Sache ausgesetzt werden.

2. Welche Bedeutung haben diese Fragen für deutsche Unternehmen?

Der Ausgang dieser Verfahren ist für deutsche Unternehmen von gravierender Bedeutung. Stellte sich heraus, dass die Begrenzung der deutschen Mitbestimmung auf das Inland unionsrechtswidrig wäre, würde sich die Mitbestimmungslandschaft in Deutschland erheblich ändern:

  • Wenn bei den Schwellenwerten auch Arbeitnehmer aus dem Ausland zu berücksichtigen wären, würden viele deutsche Unternehmen zukünftig der Drittelbeteiligung oder der paritätischen Mitbestimmung unterliegen, bei denen das bisher noch nicht der Fall ist. Die Zahl der mitbestimmten, insbesondere der paritätisch mitbestimmten Unternehmen würde erheblich steigen.
     
  • Hätten die ausländischen Arbeitnehmer ebenfalls ein aktives und passives Wahlrecht, würde sich die Zusammensetzung des Aufsichtsrates ändern. Während bisher nur deutsche Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat gewählt werden können, käme es dann zu einer "Europäisierung" des Aufsichtsrates mit deutschen und ausländischen Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat.

3. Welche Entscheidungen kann der EuGH treffen und welche Folgen hätten diese?

Wie der EuGH die deutsche Mitbestimmung und ihre Vereinbarkeit mit Europarecht beurteilt, ist nicht vorhersehbar.

Wenn der EuGH der (bisherigen) deutschen h.M. folgt und die Mitbestimmung auf das jeweilige Inland beschränkt, würde sich nichts ändern. In den konkreten Statusverfahren des LG Frankfurt bzw. des KG Berlin wären die Aufsichtsräte korrekt zusammengesetzt.

Kommt der EuGH jedoch zu dem Ergebnis, das deutsche Mitbestimmungsrecht sei europarechtswidrig, wäre offen, was dann gilt.

Denkbar ist, dass dann keine Mitbestimmung in den Aufsichtsräten mehr anzuwenden wäre und der Aufsichtsrat ohne Arbeitnehmervertretung bleiben müsste. Das würde zu einem generellen Wegfall der Mitbestimmung in Deutschland führen. Da die Mitbestimmung aber zu einem "Mehr" an Arbeitnehmerrechten führt und die europäische Sozialpolitik auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen durch eine Angleichung "nach oben" angelegt ist (Art. 151 AEUV), ist ein solches Ergebnis nicht zu erwarten.

Vielmehr ist am ehesten damit zu rechnen, dass in irgendeiner Weise auch ausländische Arbeitnehmer zu berücksichtigen sind. Das könnte heißen, dass ausländische Arbeitnehmer nur bei den Schwellenwerten mitzuzählen sind. Die Folge wäre eine deutlich vergrößerte Anzahl von Unternehmen, die nunmehr den Mitbestimmungsgesetzen unterliegen. Auch könnten – bei personalintensiven Tochtergesellschaften im Ausland – die Aufsichtsräte deutscher mitbestimmungspflichtiger Unternehmen größer werden. Würden die Arbeitnehmer ausländischer Tochtergesellschaften zudem das aktive und passive Wahlrecht erhalten (wie die Arbeitnehmer der deutschen Tochtergesellschaften), führte dies zu einem Einzug ausländischer Arbeitnehmer in die Aufsichtsräte mitbestimmter Unternehmen, also zu einer "Europäisierung" der Aufsichtsräte. Wie die "Europäisierung" des Aufsichtsrats konkret erfolgen müsste, ist offen. Denkbar wäre es, die Grundsätze einer europäischen Regelung z.B. in § 36 SE-Beteiligungsgesetz für die Zusammensetzung und Bestimmung des Aufsichtsrats in der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) analog anwenden.

Über die Folgen einer etwaigen Europarechtswidrigkeit hätte in erster Linie der deutsche Gesetzgeber zu entscheiden. Wie er mit einer etwaigen Europarechtswidrigkeit umgehen würde, ist völlig offen. Aufgrund der seit Jahren zu beobachtenden Tendenz, strittige Fragen im Arbeitsrecht nicht zu regeln, ist am ehesten zu erwarten, dass der deutsche Gesetzgeber gar nicht reagiert und es den Gerichten überlässt, eine Lösung zu finden.

4. Welche Aufgaben stellen sich nun für deutsche Unternehmen?

Stellt sich das deutsche Mitbestimmungsrecht als europarechtswidrig heraus, sind wahrscheinlich in irgendeiner Weise im Ausland beschäftigte Arbeitnehmer bei der Mitbestimmung deutscher Unternehmen zu berücksichtigen.

Ob und welche gesetzlichen Regelungen in diesem Fall entstehen werden, ist völlig offen. Es kann Jahre dauern, bis hier Klarheit besteht.

Die Unternehmen sollten vor diesem Hintergrund prüfen, ob in ihrem Fall eine der in der Praxis verfügbaren Strategien zur Vermeidung von Mitbestimmung, insbesondere unter Einsatz einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) ergriffen werden kann.

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Dr. Rainer Kienast