Home / Veröffentlichungen / Wenn es nicht für alle reicht … Lieferpflichten...

Wenn es nicht für alle reicht … Lieferpflichten bei begrenzten Mengen

25/03/2020

A. Ausgangslage

Viele Unternehmen sind derzeit nicht in der Lage, ihren Lieferverpflichtungen in vollem Umfang Rechnung zu tragen. Die Produktion ist entweder gedrosselt oder ganz eingestellt, Lieferketten sind abgeschnitten. Soweit Waren nicht mehr verfügbar sind und auch nicht mit zumutbarem Aufwand besorgt werden können, werden Unternehmen möglicherweise von ihren Lieferpflichten frei (siehe hierzu bereits unseren Beitrag Wenn nicht mehr geliefert werden kann ... Lieferpflichten in der Corona-Krise). Was aber ist mit dem noch zur Verfügung stehenden Warenbestand? Sind alle Kunden gleich zu behandeln oder dürfen einzelne bevorzugt werden? Diese Frage stellt sich schon derzeit – aber sie wird auch dann aufkommen, wenn sich die Situation wieder normalisiert haben wird. Denn jeder Kunde wird dann darauf drängen, dass die ausgesetzten Lieferungen möglichst schnell und umfassend wieder aufgenommen werden. 

B. Grundsatz der Gleichbehandlung

Bei der Beantwortung der Frage muss ermittelt werden, was ein Unternehmen überhaupt schuldet. Wenn der Schuldner nur aus einem bestimmten Vorrat (z. B. seiner eigenen Produktion oder einem bestimmten Lager) zu liefern hat, handelt es sich um sogenannte Vorratsschulden. Demgegenüber stehen die sogenannten Gattungsschulden, bei denen der Schuldner nicht auf einen bestimmten Vorrat beschränkt ist, sondern im Prinzip Waren einer bestimmten Art und Güte ohne genaue Konkretisierung schuldet. In diesem zuletzt genannten Fall kann es sein, dass das Unternehmen verpflichtet ist, möglicherweise auch von dritter Seite Waren einzukaufen, um diese an den Kunden weiterzuverkaufen. Unternehmen können gezwungen sein, Alternativmaßnahmen (z. B. alternative Fertigung, alternative Lieferquellen und alternative Transportwege) zur Vermeidung oder Abwendung des Leistungshindernisses vorzunehmen, auch wenn dies für den Lieferanten mit hohen Verlusten verbunden ist (siehe dazu bereits den Beitrag Wenn nicht mehr geliefert werden kann ... Lieferpflichten in der Corona-Krise).

Bei Vorratsschulden gilt, dass Unternehmen grundsätzlich verpflichtet sind, den (noch) vorhandenen Vorrat proportional auf alle Gläubiger aufzuteilen, wenn sie aufgrund eines nicht verschuldeten Umstandes (z. B. höherer Gewalt) nicht zur vollständigen Befriedigung aller Kunden in der Lage sind. Der Anspruch der Gläubiger wäre dann im Übrigen gemäß § 275 Abs. 1 BGB wegen Unmöglichkeit ausgeschlossen. Dies hat die – wenn auch sehr alte – Rechtsprechung (z. B. RGZ 84, 125) entschieden und ihr folgt auch die herrschende Meinung in der juristischen Literatur. Neuere Entscheidungen gibt es, soweit ersichtlich, nicht.

Zur Begründung stützen sich Rechtsprechung und herrschende Meinung auf eine zwischen den einzelnen Kunden bestehende Interessen- oder Gefahrengemeinschaft. Alle Forderungen haben den gleichen Rang und die gleiche Natur. Daher sind die Rechte jedes beteiligten Gläubigers dadurch beschränkt, dass Rücksicht auf die gleichgelagerte Bindung des Schuldners gegenüber den anderen Mitgläubigern genommen werden muss. Ein zeitliches Prioritätsprinzip, nach dem der Gläubiger, der seinen Anspruch als Erstes geltend macht, vollständige Befriedigung erhalten müsse, besteht nicht.

Auch wenn die ältere Rechtsprechung und herrschende Meinung nicht unumstritten sind, muss bis zum Vorliegen einer anderslautenden Entscheidung höherer Gerichte davon ausgegangen werden, dass die ältere Rechtsprechung auch auf die vorliegende Situation Anwendung findet.

C. Schadenersatzpflichten?

Das Unternehmen, das sich an diese vorstehende proportionale Verteilung hält und im Übrigen von seiner Leistungspflicht (vorübergehend) befreit wird, muss grundsätzlich keine Schadenersatzforderungen fürchten.

Wird aber von der gebotenen anteiligen Aufteilung des verbleibenden Vorrats auf die Gläubiger abgewichen (sprich, werden einzelne Kunden bevorzugt), besteht durchaus das Risiko einer Schadenersatzpflicht gegenüber den Kunden. Der Schuldner hätte seine (vollumfängliche) Leistungsunfähigkeit gegenüber dem nichtbelieferten Gläubiger dann pflichtwidrig herbeigeführt. Zu berücksichtigen könnte sein, inwieweit ggf. die Bevorzugung eines Gläubigers nach § 242 BGB gerechtfertigt ist, was aber wohl nur in äußerst seltenen Situationen gerechtfertigt sein dürfte. Denkbar wäre dies z. B., wenn medizinisch relevante Waren zur Vermeidung eines gesundheitlichen Notstandes vorrangig an Krankenhäuser und sonstige medizinische Einrichtungen geliefert werden. Von solchen Sonderkonstellationen abgesehen bleibt es aber bei der Schadenersatzpflicht.

D. Möglichkeit der Ungleichbehandlung durch vertragliche Regelungen?

Jegliche Form der Ungleichbehandlung durch vertragliche Regelungen begegnet erheblichen Bedenken im Hinblick auf die Wirksamkeit. Einzelvertraglich besteht sicherlich ein größerer Gestaltungsspielraum und man könnte regeln, dass einzelne Kunden in der Reihenfolge der Berücksichtigung „zurücktreten“. Es dürfte aber schwer sein, einen Kunden von einer solchen Regelung zu überzeugen. Noch schwieriger wird es aber sein, mit allen Kunden individualvertragliche Regelungen zu vereinbaren. Der weit überwiegende Teil der Vertragsklauseln dürfte als vorformulierte Bedingungen, sprich AGB, anzusehen sein. Dort sind etwaige Regelungen, dass einzelne Kunden vorrangig bedient werden, oder eine Regelung, dass der Lieferant selbst bestimmen kann, welcher Kunde wie zu beliefern ist, regelmäßig unwirksam. Dies gilt vor allem dann, wenn keine klaren Verteilungskriterien vereinbart wurden.

E. Fazit: Grundsatz der Gleichbehandlung

Im Grundsatz gilt somit, dass der Lieferant grundsätzlich alle seine Kunden gleich zu behandeln hat. In Anbetracht dieser Umstände muss in jedem Fall davon abgeraten werden, einzelne Kunden im Fall der begrenzten Kapazitäten zu bevorzugen. Es mag zwar sein, dass ein Unternehmen aus rein kaufmännischen Überlegungen einen besonders „wichtigen“ Kunden vorrangig bedient. Dann aber ist es dem Risiko ausgesetzt, von anderen Gläubigern auf Schadenersatz in Anspruch genommen zu werden.


Aktuelle Informationen zu COVID-19 finden Sie in unserem Corona Center. Wenn Sie Fragen zum Umgang mit der aktuellen Lage und den Auswirkungen für Ihr Unternehmen haben, sprechen Sie unser CMS Response Team jederzeit gerne an.


Autoren

Foto vonUlrich Becker
Dr. Ulrich Becker
Partner
Frankfurt