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Modernisierung des Schweizer Erbrechts

13/09/2016

Die wichtigsten Reformvorschläge des Bundesrates im Überblick

Das schweizerische Erbrecht hat seit seinem Inkrafttreten im Jahr 1912 kaum Änderungen erfahren. Aufgrund der zwischenzeitlich markant veränderten Lebensumstände wird das Erbrecht als nicht mehr zeitgemäß empfunden. Nun liegen die bundesrätlichen Modernisierungsvorschläge zur Vernehmlassung vor: Kernziel der Revision ist es, dem Erblasser mehr Flexibilität und Entscheidungsautonomie einzuräumen, wie er über sein Vermögen verfügen möchte. Dadurch soll jeder Erblasser seiner familiären Lebensrealität sowie seiner spezifischen Vermögensstruktur individuell besser Rechnung tragen können.

Vergrößerung des Planungsspielraums durch Reduktion der Pflichtteile

Nach geltendem Recht haben die Nachkommen, der überlebende Ehegatte, der überlebende eingetragene Partner und, wenn keine Nachkommen vorhanden sind, auch die Eltern des Erblassers, einen Anspruch auf einen gesetzlich vorgeschriebenen Mindestanteil am Nachlass. Diese Pflichtteile sind zwingend und können vom Erblasser grundsätzlich nicht beseitigt werden. Ein wesentlicher Teil des eigenen Vermögens kann somit der Verfügungsfreiheit des Erblassers entzogen sein – insbesondere bei Erblassern mit Nachkommen und/oder Ehepartnern. Die geltenden Pflichtteilsquoten werden, namentlich auch im Vergleich zu ausländischen Rechtsordnungen, in der Schweiz als hoch empfunden. Entsprechend stehen im Zentrum des Revisionsvorschlags die Verkleinerung der gesetzlichen Pflichtteile und damit die Vergrößerung des Planungsspielraums des Erblassers.

Der Pflichtteilsschutz für die Eltern des Erblassers soll ganz entfallen. Der Pflichtteil der Nachkommen soll neu die Hälfte statt drei Viertel und der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten bzw. eingetragenen Partners neu ein Viertel statt die Hälfte des gesetzlichen Erbanspruches betragen.
Beispiel: Hinterlässt ein Erblasser einen Ehegatten und ein Kind, haben sowohl der überlebende Ehegatte als auch das Kind einen gesetzlichen Erbanspruch an der Hälfte des Nachlasses. Der Pflichtteil des Ehegatten beträgt neu ein Viertel der gesetzlichen Hälfte, somit ein Achtel des Nachlasses (geltendes Recht: ein Viertel), und der Pflichtteil des Kindes die Hälfte der gesetzlichen Hälfte des Nachlasses, somit ein Viertel (geltendes Recht: drei Achtel). Der Erblasser soll somit in dieser Konstellation neu über fünf Achtel seines Nachlasses frei verfügen können (geltendes Recht: drei Achtel).

Erbrechtliche Berücksichtigung moderner Lebensgemeinschaften

Der überlebende Konkubinatspartner hat keinen erbrechtlichen Anspruch am Nachlass seines verstorbenen Partners. Dies wird sich auch mit der geplanten Gesetzesrevision nicht ändern. Der Vorentwurf hat bewusst darauf verzichtet, den überlebenden Konkubinatspartner in den Kreis der erbberechtigten Personen aufzunehmen. Er erhöht lediglich die Verfügungsfreiheit und überlässt es dem individuellen Gestaltungswillen des Erblassers – und damit aber auch dessen Verantwortung –, ob und wie er den überlebenden Partner berücksichtigen möchte. Für nicht verheiratete Paare, die sich absichern möchten, ist und bleibt es somit auch in Zukunft wichtig, aktiv zu werden und die gewünschte erbrechtliche Begünstigung letztwillig festzulegen.

Fehlt eine letztwillige Begünstigung, kann dies zu stoßenden Härtefällen führen, insbesondere wenn der Erblasser zu Lebzeiten nicht nur für den Unterhalt des überlebenden Partners, sondern auch für dessen minderjährige Kinder aufgekommen ist. Das Gesetz führt deshalb neu ein gesetzliches Unterhaltsvermächtnis ein, das vom (stillschweigenden) Willen des Erblassers unabhängig ist: Der überlebende Partner, der mit dem Erblasser mindestens drei Jahre eine faktische Lebensgemeinschaft geführt und den Erblasser wesentlich unterstützt hat, kann einen Anspruch gegenüber den Erben innert drei Monaten klageweise geltend machen. Sofern der überlebende Partner für die Bestreitung eines angemessenen Lebensunterhalts auf finanziellen Beistand angewiesen ist, setzt das Gericht die Höhe des Vermächtnisses nach Ermessen fest; obere Grenze ist der bisherige Lebensstandard.

Ein Klagerecht kommt gemäß Vorentwurf auch Personen zu, die während ihrer Minderjährigkeit mindestens fünf Jahre mit dem Erblasser in einem gemeinsamen Haushalt gelebt und vom Erblasser finanzielle Unterstützung erhalten haben.

Stärkung von Informationsrechten

Erbberechtigte sind darauf angewiesen, umfassende Informationen über das Vermögen des Erblassers zu erhalten, und zwar auch für die Zeit vor dessen Ableben. Das geltende Recht statuiert entsprechend, dass die Erben untereinander verpflichtet sind, sich gegenseitig über alles zu informieren, was die Höhe des Nachlasses beeinflussen kann. In der bisherigen Rechtsprechung wird neu gesetzlich verankert, dass der umfassende Informationsanspruch auch gegenüber Dritten gilt, die Vermögenswerte des Erblassers verwaltet, besessen oder erhalten haben (namentlich Banken, Vermögensverwalter und Trustees). Im Bericht zum Vorentwurf wird zur Klärung ausgeführt, dass die Informationspflicht auch dann gilt, wenn es um Vermögenswerte geht, an denen der Erblasser lediglich wirtschaftlich berechtigt war. Das Berufsgeheimnis soll den Informationsberechtigten nicht entgegengehalten werden können.

Erbrechtliche Behandlung von Guthaben der beruflichen und privaten Vorsorge sowie von Lebensversicherungen

Oft finden sich substanzielle Vermögenswerte des Erblassers in den verschiedenen Säulen der Vorsorge sowie in Lebensversicherungen. Der Bundesrat schlägt deshalb eine gesetzliche Klarstellung in Bezug auf deren erbrechtliche Behandlung vor. In Bezug auf die Guthaben aus der beruflichen und gebundenen privaten Vorsorge (zweite Säule und Säule 3 a) entscheidet er sich für den Vorrang des sozialversicherungsrechtlichen Vorsorgezwecks: Guthaben, welche die Begünstigten aus der zweiten Säule und der Säule 3 a erhalten, sollen entsprechend nicht Teil der Nachlassmasse sein. Dies im Gegensatz zu Ansprüchen aus reinen Lebensversicherungen, die zum Nachlass und damit zur Pflichtteilsberechnung hinzugerechnet werden.

Maßnahmen gegen Erbschleicherei

Eine Person, die durch ihre berufliche Funktion in einem Vertrauensverhältnis zum Erblasser steht, soll durch eine letztwillige Verfügung künftig höchstens einen Viertel des Nachlasses erhalten können. Mit der offenen Formulierung werden sämtliche Berufsgruppen erfasst; maßgebend ist einzig die enge Beziehung oder das Vertrauensverhältnis aufgrund des beruflichen Kontakts. Im Bericht zum Vorentwurf werden beispielhaft u. a. Anwälte, Ärzte, Pflegefachkräfte, Haushaltshilfen und Personal Trainer genannt.

Das audiovisuelle Nottestament

Für die Errichtung einer letztwilligen Verfügung gelten strikte Formerfordernisse (Handschriftlichkeit oder öffentliche Beurkundung), die in Notsituationen allenfalls nicht eingehalten werden können. Das geltende Recht sieht deshalb für außerordentliche Umstände die Möglichkeit eines mündlichen Testaments vor zwei Zeugen vor. Neu soll es dem Erblasser auch möglich sein, seinen Letzten Willen audiovisuell festzuhalten (z. B. auf einer Videokamera oder einem Smartphone).

Weitere Änderungsvorschläge

Der Vorentwurf umfasst im Weiteren diverse „kosmetische“ Korrekturen und Verbesserungsvorschläge, die sich in den letzten Jahren aus Lehre und Rechtsprechung herausgebildet haben. Schließlich ist der Vorentwurf bestrebt, Unsicherheiten in der Auslegung einiger Bestimmungen zu beseitigen, die für die Praxis sehr wichtig sind, aufgrund ihrer Komplexität hier aber nicht vertieft werden können (insbesondere die erbrechtliche Einordnung der ehevertraglichen Vorschlagszuweisung und die Frage der Herabsetzung von Erbvorbezügen, die nicht der Ausgleichung unterliegen).

Auswirkungen für die Praxis:

Der Vorentwurf ist auf sehr gemischte Reaktionen gestoßen. Während die vorgesehene größere Flexibilität und Testierfreiheit generell auf Zustimmung stößt, scheinen einige Reformvorschläge inhaltlich und von der gesetzlichen Ausformulierung her noch sehr unausgegoren. Außerdem werden mehrere Reformpunkte vermisst, nach denen Praxis und Wissenschaft schon lange rufen.

Zahlreiche Stellungnahmen wurden im jüngst abgeschlossenen Vernehmlassungsverfahren eingereicht. Sie werden derzeit ausgewertet. Aufgrund der Vielzahl der eingereichten Stellungnahmen ist derzeit noch offen, ob, wann und wie der revidierte Gesetzesvorschlag erarbeitet wird, der sodann die Hürden des Parlaments sowie eines allfälligen Referendums zu nehmen hat. Daher ist derzeit noch schwer abzuschätzen, wann und ob die angedachten und stark diskutierten Rechtsänderungen in Kraft treten werden.
In der sorgfältigen Anwaltspraxis ist die derzeitige Gesetzesreform bereits heute zu beachten, namentlich im Rahmen der Redaktion neuer Testamente und Erbverträge, in denen mitunter darauf geachtet werden soll, dass bei der Nennung von Kernbegriffen wie „Pflichtteil“ stets präzisiert wird, ob der Pflichtteil gemäß dem bei Niederschrift der Verfügung geltenden Recht oder aber der Pflichtteil gemäß dem zum Todeszeitpunkt geltenden Recht gemeint ist.

Wir werden im Rahmen des Experten-Newsletters über die weitere Entwicklung des Reformprojekts berichten. 

Autoren

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Tobias Somary, LL.M.
Partner
Zürich
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Louise Lutz Sciamanna, LL.M.
Counsel
Zürich