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Q&A | Höhere Gewalt im Schweizerischem Recht: Voraussetzungen und Rechtsfolgen

Antworten auf die wichtigsten Fragen

Höhere Gewalt im Schweizerischem Recht: Voraussetzungen und Rechtsfolgen

Fragen und Antworten im Zusammenhang mit COVID-19 in der Schweiz

 

Gibt es im schweizerischen Rechtssystem Bestimmungen zur höheren Gewalt?

Im schweizerischen Recht gibt es keine gesetzliche Definition des Begriffs "höhere Gewalt". Enthält ein Vertrag keine Klausel zur höheren Gewalt, hängen die rechtlichen Konsequenzen davon ab, ob die Unmöglichkeit, den Vertrag zu erfüllen, lediglich für eine gewisse Zeit besteht oder dauerhafter Natur ist. In Bezug auf die Corona-Pandemie wird bei den meisten Verträgen das Hindernis nur für eine gewisse Zeit bestehen. 

Für den Fall, dass die Unmöglichkeit, die Verpflichtungen zu erfüllen, nur für eine gewisse Zeit besteht, finden die Regelungen der Art. 107 bis 109 des Schweizer Obligationenrechts (OR) Anwendung.

Diese sehen vor, dass im Falle des Verzugs einer Partei die andere Partei eine angemessene Frist für die Leistung setzen kann. Erfolgt während dieser Frist keine Leistung, kann die andere Partei vom Vertrag zurücktreten. 

Einer Fristsetzung bedarf es nicht

  1. wenn aus dem Verhalten einer Partei ersichtlich ist, dass eine Fristsetzung zwecklos wäre;
  2. wenn die Leistung für die andere Partei aufgrund des Versäumnisses der Partei sinnlos geworden ist;
  3. wenn aus dem Vertrag die Absicht der Parteien klar hervorgeht, dass die Leistung genau zu einer bestimmten Zeit oder vor einer bestimmten Zeit erbracht werden soll.

Im Falle des Rücktritts einer Partei müssen alle Zahlungen oder anderen Leistungen zurückerstattet werden. Es ist jedoch kein Schadenersatz geschuldet, wenn eine Partei nicht schuldhaft gehandelt hat. Dies wird üblicherweise der Fall sein, wenn eine Partei aufgrund der Corona-Situation nicht in der Lage war, den Vertrag zu erfüllen.

Wird die Leistung dauerhaft unmöglich, zum Beispiel, weil die für einen bestimmten Termin vereinbarte Veranstaltung aufgrund behördlicher Verbote nicht stattfinden kann, ist Art. 119 OR anwendbar. Die Verpflichtungen aus dem Vertrag werden aufgehoben. Die Parteien werden von ihren noch nicht erfüllten Verpflichtungen befreit und müssen zurückerstatten, was sie bereits erhalten haben.

 

Sind die Bestimmungen des Schweizerischen Rechts zwingend oder steht es den Parteien frei, Fälle höherer Gewalt abweichend zu regeln? Inwieweit steht es den Parteien frei, solche Klauseln zu vereinbaren?

Alle vorgenannten gesetzlichen Regelungen sind nicht zwingend. Wenn eine vertragliche Regelung von den gesetzlichen Regelungen abweicht, ist die vertragliche Regelung vorrangig. 

Grundsätzlich können die Parteien auch eine einseitige Regelung vereinbaren. Jedoch sieht Art. 8 des Schweizer Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) vor, dass allgemeine Geschäftsbedingungen in Verträgen mit Konsumenten kein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Parteien zum Nachteil des Konsumenten begründen dürfen. Klauseln, die gegen diese Bestimmung verstossen, sind ungültig.

 

Wenn ein Vertrag nur besagt, dass wegen "höherer Gewalt" gekündigt werden kann, ohne den Begriff zu definieren: Gibt es eine Richtlinie/ein Fallbeispiel, was dies bedeutet ?

Höhere Gewalt ist ein von aussen auf den Betrieb des Unternehmers einwirkendes, aussergewöhnliches Ereignis, das unvorhersehbar und auch bei Anwendung äusserster Sorgfalt nicht abzuwenden ist, jedenfalls nicht ohne Gefährdung des ganzen Betriebes. Das Ereignis darf zudem kein solches sein, dass wegen seiner Häufigkeit vom Unternehmer in Rechnung zu ziehen und in Kauf zu nehmen ist

Das Bundesgericht hat die höhere Gewalt vor vielen Jahren einmal als ein unvorhersehbares, aussergewöhnliches Ereignis verstanden, das mit dem "Betrieb" des Unternehmens nicht zusammenhängt, sondern mit unabwendbarer Gewalt von aussen hereinbricht (BGE 102 Ib 257).

 

Gibt es einen Unterschied zwischen Verträgen, welche zwei Unternehmen abschliessen (sog. B2B Geschäft) und solchen, die ein Unternehmen mit einem Konsumenten (sog. B2C Geschäft) abschliesst?

Art. 8 des Schweizer Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) bestimmt, dass allgemeine Geschäftsbedingungen in Verträgen mit Konsumenten kein erhebliches und ungerechtfertigtes Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Parteien zum Nachteil des Konsumenten begründen dürfen. Klauseln, die gegen diese Bestimmung verstossen, sind ungültig.

 

Fällt die Beurteilung unterschiedlich aus, wenn die Klausel für höhere Gewalt in einem Vertrag oder in AGBs niedergelegt ist?

Die vorerwähnte Bestimmung gilt nur für allgemeine Geschäftsbedingungen in Verträgen mit Konsumenten.

 

Gibt es andere Möglichkeiten, die eine Partei in Betracht ziehen kann, wenn sie aufgrund des Coronavirus nicht in der Lage ist, einen Vertrag zu erfüllen?

Wenn die Erfüllung eines Vertrages nicht gänzlich unmöglich, aber extrem belastend geworden ist, kann eine Partei die Ausnahmeregelung der "clausula rebus sic stantibus" geltend machen.

Es muss sich um eine Situation handeln, die nicht nur finanziell ausserordentlich belastend ist, sondern sie darf zudem im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nicht vorhersehbar gewesen sein.

Eine solche extreme und unvorhersehbare Situation erlaubt es einer Partei, eine Anpassung oder Aufhebung eines Vertrages zu verlangen. Die Parteien können die Bedingungen des Vertrages anpassen, oder die Aufhebung bzw. Auflösung des Vertrages vereinbaren. 

Wenn die andere Partei darauf besteht, dass der Vertrag unverändert bleibt, kann die antragstellende Partei das Gericht anrufen und eine Entscheidung des Gerichts beantragen. Das Gericht kann – wenn die Voraussetzungen erfüllt sind – eine Änderung der Vereinbarung oder eine Aufhebung bzw. Auflösung der Vereinbarung anordnen.

 

 

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Philipp Dickenmann, LL.M.
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