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Grüne Vereinbarungen auf dem Prüfstand der finalen Nachhaltigkeitsleitlinien der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB)

30. Januar 2023

Der österreichische Gesetzgeber hat mit dem am 10. September 2021 in Kraft getretenen Kartell- und Wettbewerbsrechts-Änderungsgesetz 2021 (“KaWeRÄG 2021”)1  die – soweit ersichtlich – weltweit erste Nachhaltigkeitsausnahme in das Wettbewerbsrecht eingeführt. Damit wird die bereits bestehende Ausnahmeregelung vom Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen in § 2 Abs 1 KartG, wonach Verbraucher an den aus einer Wettbewerbsbeschränkung resultierenden Effizienzgewinnen (in Form eines Beitrags zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts) angemessen beteiligt sein müssen, erweitert: Gemäß § 2 Abs 1 letzter Satz KartG wird eine angemessene Beteiligung der Verbraucher nunmehr auch dann angenommen, wenn der aus der unternehmerischen Kooperation entstehende Effizienzgewinn zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft wesentlich beiträgt. 

Damit werden jedenfalls eine Reihe von Fragen in Hinblick auf den Anwendungsbereich dieser neuen Ausnahme, dem Verhältnis zu Artikel 101 Abs 3 AEUV (dem Pendant zu § 2 Abs 1 KartG auf europäischer Ebene) sowie ihrer praktischer Anwendung aufgeworfen. Insbesondere treten die angesprochenen Nachhaltigkeitseffekte nach der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) mitunter nicht unbedingt bei den von der konkreten Wettbewerbsbeschränkung speziell betroffenen Verbrauchergruppen auf, sondern kommen vielmehr der Allgemeinheit zugute (bzw. auch erst zeitversetzt), weshalb sie nach den bisherigen Freistellungsvoraussetzungen nicht oder nur beschränkt berücksichtigt werden konnten.

Vor diesem Hintergrund hat die BWB am 30. September 2022 ihre finalen Leitlinien zur Anwendung von § 2 Abs 1 KartG auf Nachhaltigkeitskooperationen2  (nachfolgend „Nachhaltigkeits-LL“) veröffentlicht.3,4  Mit den neuen Nachhaltigkeits-LL bezweckt die BWB, Unternehmen eine Hilfestellung zu bieten, wie sie diese neue Bestimmung in § 2 Abs 1 letzter Satz KartG auslegt und anzuwenden beabsichtigt. 

Eingeschränkter Anwendungsbereich der Leitlinien

Eingangs stellen die Nachhaltigkeits-LL klar, dass die Nachhaltigkeitsausnahme in § 2 Abs 1 letzter Satz KartG dann nicht zur Anwendung kommt, wenn die Kooperation zu keiner Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs im Sinne des § 1 KartG führt (d.h., sie ohnehin nicht unter das Kartellverbot des § 1 KartG fällt). In diesem Zusammenhang enthalten die Nachhaltigkeits-LL unter Abschnitt 3 Ausführungen hinsichtlich der Möglichkeit einer kartellrechtsneutralen Ausgestaltung der geplanten Zusammenarbeit zwischen Unternehmen. Als Praxisbeispiel für Nachhaltigkeitskooperationen, die den Wettbewerb auch im Anwendungsbereich rein nationalen Kartellrechts regelmäßig nicht beschränken, nennen die Nachhaltigkeits-LL etwa Kooperationen, die die ökonomischen Aktivitäten von Wettbewerber:innen nicht einschränken, sondern lediglich deren interne Verhaltenskodizes betreffen. Nach der BWB betrifft dies Unternehmen, die z. B. die Reputation ihrer Industrie bezüglich Nachhaltigkeit verbessern wollen und zu diesem Zwecke Maßnahmen vereinbaren, die etwa den Plastikgebrauch auf ihrem Unternehmensgelände, die Temperatur ihrer Bürogebäude oder die Anzahl an Papierausdrucken einschränken.5

Wie sich bereits aus dem Wortlaut des § 2 Abs 1 letzter Satz KartG ergibt, müssen die aus der zu prüfenden Kooperation entstehenden Effizienzgewinne zudem zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beitragen. Andere Aspekte von Nachhaltigkeit abseits ökologischer Nachhaltigkeit (wie etwa soziale Aspekte) sind von den Nachhaltigkeits-LL daher nicht erfasst.

Darüber hinaus kann die Nachhaltigkeitsausnahme nur dann zur Rechtfertigung herangezogen werden, wenn das Europäische Wettbewerbsrecht mangels Erfüllung des Zwischenstaatlichkeitskriteriums nicht zur Anwendung kommt. Das Zwischenstaatlichkeitskriterium ist dann erfüllt, wenn die betreffende Kooperation geeignet ist, den Wirtschaftsverkehr zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen7. Dies kann nach den Nachhaltigkeits-LL insbesondere dann der Fall sein, wenn die zu prüfende Kooperation ganz Österreich oder einen wesentlichen Teil des Bundesgebietes abdeckt, einen Markt bzw. Märkte in mehreren EU-Mitgliedsstaaten betrifft, direkt auf den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr abzielt oder zwischen Unternehmen aus mehreren Mitgliedstaaten getroffen wird. Ist Zwischenstaatlichkeit gegeben, so kann das nationale Recht – einschließlich der vorliegenden Nachhaltigkeits-LL – im Einzelfall allerdings anwendbar bleiben, sofern es zu keinen vom Unionsrecht abweichenden Ergebnissen führt. 

Prüfschema für die Rechtfertigung einer wettbewerbsbeschränkenden Nachhaltigkeitskooperation

Unternehmen können wettbewerbsbeschränkende Nachhaltigkeitskooperationen nunmehr unter Heranziehung der Nachhaltigkeitsausnahme in § 2 Abs 1 letzter Satz KartG rechtfertigen, sofern durch die Nachhaltigkeitskooperation Effizienzgewinne in Zusammenhang mit ökologischen Vorteilen entstehen. Eine angemessene Beteiligung der Verbraucher ist dann ex lege anzunehmen. Zu diesem Zweck enthalten die Leitlinien einen detaillierten Katalog an Voraussetzungen, unter denen wettbewerbsbeschränkende Nachhaltigkeitskooperationen zulässig sein können.

Konkret umfasst das in den Leitlinien vorgegebene Prüfschema fünf Voraussetzungen, die kumulativ erfüllt sein müssen8:

  1. Effizienzgewinne: Erstens muss die Kooperation zu einer Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung, oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen (= zu einem Effizienzgewinn führen). Allgemein meint ein Effizienzgewinn eine verbesserte Nutzung knapper Ressourcen, sodass sich die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt erhöht, wobei eine bloße Umverteilung von Wohlfahrt zwischen Erzeugern und Verbrauchern nicht ausreichend ist. Als Beispiel für Effizienzgewinne nennen die Leitlinien Kosteneinsparungen, Innovation und ökologische Vorteile wie die Verringerung von Umweltschäden (z.B. eine Verringerung der Wasserverschmutzung). Auch Vorteile für zukünftige Generationen (wie insbesondere im Fall von drohenden irreversiblen Umweltschäden) sind erfasst. Die behaupteten Effizienzgewinne müssen objektiv, konkret und überprüfbar sein sowie von den Unternehmen schlüssig dargelegt und im Einzelfall belegt werden.
  2. Unerlässlichkeit der Beschränkungen des Wettbewerbs: Zweitens muss die Kooperation ausschließlich Wettbewerbsbeschränkungen enthalten, die für die Verwirklichung der vorgebrachten Effizienzgewinne unerlässlich sind. Dabei müssen Unternehmen belegen, dass es keine Möglichkeit gibt, die Kooperation auf eine Weise durchzuführen, welche die Effizienzgewinne verwirklicht, aber den Wettbewerb weniger beschränkt (anders als nach den Horizontal-LL der Kommission9 ist eine lediglich kosteneffizientere Verwirklichung jedoch nicht ausreichend).
  3. Beitrag zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft: Drittens müssen die beteiligten Unternehmen darlegen, dass die aus der Kooperation entstehenden Effizienzgewinne tatsächlich zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beitragen. Angelehnt an die Taxonomie-Verordnung10 enthalten die Leitlinien eine nicht abschließende („insbesondere“) Auflistung von Aspekten ökologischer Nachhaltigkeit, bei deren Vorliegen ein Beitrag zur ökologischen Nachhaltigkeit oder Klimaneutralität iSd § 2 Abs 1 letzter Satz KartG l angenommen wird. Diese umfassen: Klimaschutz, Anpassung an den Klimawandel, Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, Verminderung von Umweltverschmutzung, Vermeidung von Umweltschäden, Schutz bzw. Wiederherstellung von Biodiversität und Ökosystemen, Unterstützung der nachhaltigen Nutzung und des Schutzes von Meeres- und Wasserressourcen. 
  4. Wesentlichkeitskriterium: Viertens müssen die beteiligten Unternehmen belegen, dass der behauptete Effizienzgewinn wesentlich zu einer ökologisch nachhaltigen oder klimaneutralen Wirtschaft beiträgt, wobei eine Abwägung der positiven und negativen Effekte einer Kooperation vorzunehmen ist. Sofern keine rein qualitative Abwägung möglich ist (d. h., das Verhältnis zwischen Wettbewerbsbeschränkung und Effizienzgewinnen aus ökologischen Vorteilen vorab nicht eindeutig ist), ist der Effekt der Wettbewerbsbeschränkung einerseits und die Höhe der Effizienzgewinne aus ökologischen Vorteilen andererseits nach der BWB in komplexeren Fällen gegebenenfalls nachvollziehbar zu schätzen bzw. für einen direkten Vergleich annäherungsweise in Geldbeträge zu übersetzen (beispielsweise bei Verbesserungen der Wasser- und Luftqualität oder Einschränkungen des Produktsortiments). Zu diesem Zweck enthalten die Leitlinien unter Abschnitt 6.2. eine detaillierte Anleitung zur Quantifizierung der Effekte von Nachhaltigkeitskooperationen.
  5. Keine Ausschaltung des Wettbewerbs: Fünftens müssen die beteiligten Unternehmen darlegen, dass durch die Kooperation nicht die Möglichkeit eröffnet wird, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Es muss daher jedenfalls ein gewisses Maß an Restwettbewerb auf dem betroffenen Markt fortbestehen.

Sollten die Voraussetzungen des obenstehenden Prüfschemas nicht erfüllt sein, kann eine Rechtfertigung wettbewerbsbeschränkender Nachhaltigkeitskooperationen weiterhin auch unter Heranziehung der (bisherigen) Prüfschritte in § 2 Abs 1 KartG11  erfolgen.

Ausblick

Die Nachhaltigkeits-LL geben erstmals einen umfassenden Überblick über die Beurteilung und Auslegung von unternehmerischen Nachhaltigkeitskooperationen anhand der Ausnahmeregelung in § 2 Abs 1 letzter Satz KartG. Dabei sind die Nachhaltigkeits-LL als Anleitungshilfe im Wege der Selbsteinschätzung durch Unternehmen zu verstehen. Sollten nach dieser Selbsteinschätzung weiterhin Zweifel bestehen, besteht allerdings die Möglichkeit, eine informelle Einschätzung der BWB nach § 2 Abs 5 WettbG einzuholen. 

Infolge der Einschränkung auf rein nationale Kooperationen stellt sich allerdings die Frage nach dem verbleibenden praktischen Anwendungsbereich der Nachhaltigkeits-LL. Im Ergebnis werden Nachhaltigkeitskooperationen zukünftig in erster Linie wohl nach den Kriterien des Art 101 Abs 3 AEUV – insbesondere der angemessenen Verbraucherbeteiligung – auf ihre Freistellungsfähigkeit zu überprüfen sein. Soweit die Nachhaltigkeits-LL zur gleichen Bewertung wie das Unionsrecht führen, können sie jedenfalls hilfsweise herangezogen werden.


1 Bundesgesetz, mit dem das Kartellgesetz 2005 und das Wettbewerbsgesetz geändert werden, BGBl. I Nr. 176/2021.
2 Bei einer Nachhaltigkeitsvereinbarung bzw. -kooperation handelt es sich um keinen eigenen oder neuen Typus horizontaler Vereinbarungen, sondern etwa um Produktions-, Einkaufs- oder Vermarktungsvereinbarungen, welche einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Siehe FN 6 der Nachhaltigkeits-LL.3 Bereits am 01.Juni 2022 veröffentlichte die BWB einen Entwurf der Nachhaltigkeits-LL, zu dem involvierte Institutionen, die beteiligten Verkehrskreise und Interessent:innen bis zum 22.Juni 2022 ihre Stellungnahme abgeben konnten. Laut Information der BWB erreichten sie über 20 Stellungnahmen, welche in die finale Fassung der Nachhaltigkeits-LL eingearbeitet wurden. 4 Verfügbar auf der Webseite der BWB unter https://www.bwb.gv.at/news/news-2022/detail/bwb-veroeffentlicht-finale-leitlinien-fuer-unternehmen-zu-nachhaltigkeitskooperationen (zuletzt abgerufen am 30.10.2022). 5Siehe Rn 52 der Nachhaltigkeits-LL.6 Hingegen umfasst der Entwurf der Leitlinien zur Anwendbarkeit des Artikels 101 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit (2022) in Abschnitt 9 zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen auch andere Aspekte von Nachhaltigkeit (genannt werden die Achtung der Menschenrechte, die Förderung einer widerstandsfähigen Infrastruktur und von Innovationen, die Verringerung der Nahrungsmittelverschwendung, die Erleichterung des Übergangs zu gesunden und nährstoffreichen Nahrungsmitteln, die Gewährleistung des Tierschutzes, siehe Rn 543 des Entwurfs der Horizontal-LL).7 EuGH 9. Juli 1969, 5/69, Völk/Vervaecke, ECLI:EU:C:1969:35.8 Aus verfahrensökonomischen Gründen will die BWB in der Praxis die vierte Voraussetzung (Unerlässlichkeit) vor der zweiten (ökologische Nachhaltigkeit) prüfen.9 Siehe in Rn 582 ff unter Abschnitt 9 zu Nachhaltigkeitsvereinbarungen im Entwurf der Horizontal-LL.10 VO (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Juni 2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088 (“Taxonomie-Verordnung”).11 Nach der BWB ist dies insbesondere in jenen Fällen denkbar, in denen durch die Nachhaltigkeitskooperation ohnehin Effizienzgewinne entstehen, an denen die Verbraucher am Markt angemessen beteiligt werden, die wie zB Produktionskosteneinsparungen aber nicht (notwendigerweise) in Zusammenhang mit ökologischen Vorteilen stehen. Siehe Rn 63 der Nachhaltigkeits-LL.

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