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BVerfG zum Recht auf Vergessen

Update Gewerblicher Rechtsschutz & Kartellrecht 02/2020

Februar 2020

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in zwei wegweisenden Entscheidungen vom 6. November 2019 grundsätzliche Maßstäbe für das „Recht auf Vergessen“ im Internet nach deutschem Recht entwickelt. Die zugrundeliegenden Fragen beschäftigt die Gerichte schon seit Längerem: Dürfen ursprünglich rechtmäßige Berichte über Verfehlungen, Straftaten oder sonstige biografische Tiefpunkte Betroffener zeitlich unbegrenzt zum Abruf bereitgehalten und von Suchmaschinen bei der Eingabe des Namens der Betroffenen zutage gefördert werden? Beeinflusst der Zeitablauf die Zulässigkeit der weiteren Verbreitung? Diese Fragen richten sich gleichermaßen an die Inhalteanbieter, insbesondere Verlage mit ihren Online-Archiven, wie an die Betreiber von Suchmaschinen. 

Bisher kannte man das „Recht auf Vergessen“ nur aus den datenschutzrechtlichen Entscheidungen des EuGH, die alleine Suchmaschinen betreffen. Und im deutschen Recht blieben die Online-Archive der Verlage hiervon nach einer Reihe von äußerungsrechtlichen Entscheidungen des BGH verschont. In beiden Konstellationen war verfassungsrechtlich das letzte Wort noch nicht gesprochen. Nun hat das BVerfG Kriterien entwickelt, mit denen der Versuch unternommen wird, den unterschiedlichen Interessen der Beteiligten Rechnung zu tragen. 

Recht auf Vergessen I – Online-Archiv der Presse

Im Fall „Recht auf Vergessen I“ (Az. 1 BvR 16/13) ging es um die Abrufbarkeit dreier Artikel im Archiv des „Spiegels“, in denen über die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen Mordes am Eigner der Yacht „Apollonia“ berichtet worden war. Die Artikel stammten aus den Jahren 1982 und 1983. Im Jahr 2002 wurde der Beschwerdeführer aus der Haft entlassen. Noch Jahre später wurden die Artikel bei Eingabe des Namens von gängigen Suchmaschinen unter den ersten Treffern angezeigt. Die Unterlassungsklage des Beschwerdeführers gegen den Anbieter von „Spiegel Online“ hatte der BGH abgewiesen, weil er das Interesse der Öffentlichkeit, sich über vergangene zeitgeschichtliche Ereignisse in Online-Archiven der Medien zu informieren, höher gewichtete als die persönlichkeitsrechtlichen und insbesondere Resozialisierungs-Interessen des Betroffenen. 

Das BVerfG hat der Verfassungsbeschwerde stattgegeben. Es hat den Fall am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes beurteilt und zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG und der Meinungs- und Pressefreiheit des Verlags aus Art. 5 I GG abgewogen. Dabei hat es darauf hingewiesen, dass es zwar kein „Recht auf Vergessenwerden“ in einem allein vom Betroffenen bestimmbaren Sinn gebe; allerdings müsse dem Betroffenen gerade unter den heutigen Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch das Internet die Chance eröffnet werden, Irrtümer und Fehler hinter sich zu lassen. Die Möglichkeit des Vergessens gehöre zur Zeitlichkeit der Freiheit, so das BVerfG geradezu philosophierend. Auf der anderen Seite sei die Bedeutung der Online-Archive für Bildung und Erziehung sowie für die Information der Öffentlichkeit zu berücksichtigen. Die Archive seien nicht nur eine wichtige Quelle für journalistische und zeithistorische Recherchen und damit für die demokratische Debatte, sondern auch wirtschaftlich zunehmend relevant in Zeiten, in denen Printprodukte einen Verlag immer weniger tragen. 

Die Abwägung löst das BVerfG dahin, dass ein Verlag anfänglich rechtmäßig veröffentlichte Berichte grundsätzlich in ein Online-Archiv einstellen und auch dauerhaft zum Abruf bereithalten darf, ohne sie von sich aus regelmäßig auf ihre weitere Rechtmäßigkeit prüfen zu müssen. Allerdings könnten Schutzmaßnahmen dann geboten sein, wenn Betroffene sich an ihn gewandt und ihre Schutzbedürftigkeit näher dargelegt hätten. Diese müsse im Einzelfall umfassend, u. a. anhand von Anlass und Gegenstand der Berichterstattung, aber auch der tatsächlichen Belastung für den Betroffenen und dessen eigenem Verhalten, geprüft werden. Im Einzelfall seien Abstufungen von Schutzmaßnahmen denkbar, die für die Anbieter zumutbar sein müssten. Anzustreben sei ein Ausgleich, der einen ungehinderten Zugriff auf den Originaltext möglichst weitgehend erhalte, diesen auf entsprechenden Schutzbedarf hin – insbesondere gegenüber namensbezogenen Suchabfragen mittels Suchmaschinen – aber einzelfallbezogen doch hinreichend begrenze. Dazu würden in der Literatur verschiedene Lösungsmöglichkeiten diskutiert, die zwar technisch nicht trivial sein mögen; sie seien dem Verlag aber dann zumutbar, wenn sie auf eine begrenzte Zahl vergleichbar gravierender Fallgestaltungen beschränkt blieben. Dem muss der BGH nun näher nachgehen, an den das BVerfG den Rechtsstreit zurückverwiesen hat. 

Recht auf Vergessen II – Trefferliste von Suchmaschinen

Im Fall „Recht auf Vergessen II“ (Az. 1 BvR 276/17) ging es um die Klage der Geschäftsführerin eines Unternehmens gegen den Anbieter der Suchmaschine Google auf Unterlassung der Anzeige eines Links, der in der Google-Trefferliste nach Eingabe ihres Namens erschien und auf eine Berichterstattung des NDR mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ verwies. Die Betroffene beanstandete, dass schon die Überschrift mit dem Hinweis auf „fiese Tricks“, die sie nie angewandt haben will, verfälschend sei. Überdies berief sie sich auf das Entfallen des öffentlichen Informationsinteresses infolge des Zeitablaufs. 

Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des OLG Celle zurückgewiesen, das die Klage gegen Google abgewiesen hatte. Zuvor war auch eine äußerungsrechtliche Unterlassungsklage der Betroffenen gegen den NDR in allen Instanzen ohne Erfolg geblieben. Das BVerfG beurteilt den Rechtsstreit nach datenschutzrechtlichen Maßstäben des harmonisierten EU-Rechts (das Medienprivileg des Datenschutzrechts greift bei Suchmaschinen nicht). So kommen die Grundrechte der EU-Grundrechte-Charta (GRCh) zum Zug, namentlich die unternehmerische Freiheit des Suchmaschinenbetreibers aus Art. 16 GRCh und (gewichtiger noch) die Meinungsfreiheit des NDR und die Informationsinteressen der Öffentlichkeit sowie auf der anderen Seite die Grundrechte der Betroffenen auf Achtung des Privatlebens und Schutz ihrer personenbezogenen Daten aus Art. 7 und 8 GRCh. Das BVerfG bestätigt im Wesentlichen die vom OLG Celle vorgenommene Abwägung. Zutreffend habe das OLG berücksichtigt, dass sich der zugrundeliegende Beitrag auf ein berufliches Verhalten der Beschwerdeführerin beziehe und überdies ein Interview enthalte, zu dem sie selbst ihre Zustimmung gegeben habe. Zutreffend habe es auch auf das Ausmaß der Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentfaltung unter Berücksichtigung des Zeitablaufs zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und deren späteren Abrufbarkeit abgestellt und sei dabei zum Ergebnis gekommen, dass der Beitrag durch ein noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt sei. Ein Anspruch auf Auslistung sei jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des OLG, rund sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Beitrags, noch nicht gegeben. 

Konsequenzen für die Praxis

So viel steht fest: Das BVerfG hält die zeitlich unbegrenzte Abrufbarkeit ursprünglich rechtmäßiger und abträglicher Altmeldungen in Einzelfällen verfassungsrechtlich für problematisch. Möglichen Löschungsverlangen von Betroffenen soll aber auch nicht Tür und Tor geöffnet werden; die Online-Archive der Medien sollen nicht im Bestand gefährdet werden. Inhalteanbieter und Suchmaschinenbetreiber müssen daher auch weiterhin nicht von sich aus Archive und mögliche Trefferlisten nach eventuell nicht mehr durch hinreichende Informationsinteressen zu rechtfertigende Altmeldungen durchsuchen. Wenn ein Betroffener sich aber gegen bestimmte Altmeldungen oder darauf bezogene Links in den Trefferlisten von Suchmaschinen unter Berufung auf den Zeitfaktor wendet, muss im Einzelfall geprüft werden. Dabei gibt es keinen automatischen Gleichklang zwischen der Zulässigkeit der Abrufbarkeit eines alten Beitrags in einem Archiv und der Zulässigkeit von dessen Nachweis durch eine Suchmaschine. In beiden Konstellationen muss aber eine umfassende Abwägung zwischen den Anonymisierungsinteressen des Betroffenen und möglicherweise fortbestehenden Informationsinteressen der Öffentlichkeit vorgenommen werden. So nachvollziehbar das speziell im Fall von Berichten über lange zurückliegende und verbüßte Straftaten im Grundsatz ist – in welchen weiteren Fällen und nach Ablauf welchen Zeitraums die Abwägung dann zu einem Löschungsanspruch führen kann, ist ebenso ungeklärt wie die Frage, wie dieser speziell bei den Online-Archiven der Medien im Einzelfall in zumutbarer Weise technisch umzusetzen ist. Hier wird auf die Gerichte noch viel Arbeit zukommen.

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Foto vonMichael Fricke
Michael Fricke
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Hamburg