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Arbeitszeit und Arbeitszeiterfassung – ein Überblick

Update Arbeitsrecht 03/2023

März 2023

Arbeitsschutzrechtliche und vergütungsrechtliche Arbeitszeit

Die Arbeitszeit steht im Mittelpunkt grundlegender Veränderungen der Wirtschaft und des Arbeitsplatzes. Nicht selten wird der Begriff „Arbeitszeit“ in der Praxis einheitlich verwendet und hierbei übersehen, dass zwischen vergütungsrechtlicher und arbeitsschutzrechtlicher Arbeitszeit zu unterscheiden ist und beide unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegen. 

Im Einzelnen:

Arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit

Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) dient insbesondere der Sicherheit und dem Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Zu diesem Zweck setzt der Staat Arbeitgebern in Deutschland arbeitszeitbezogene Schranken. Durch angedrohte Bußgelder und Strafen (§§ 22, 23 ArbZG) sollen Arbeitgeber angehalten werden, die dem Gesundheitsschutz dienenden Bestimmungen des Arbeitszeitgesetzes einzuhalten.

Das Arbeitszeitgesetz legt beispielsweise fest, wie lange Arbeitnehmer höchstens arbeiten dürfen. § 2 Abs. 1 ArbZG definiert Arbeitszeit „im Sinne dieses Gesetzes“ als die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen. Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn ist demnach jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt. Maßgebliches Abgrenzungskriterium zwischen Arbeitszeit und Ruhezeit ist der Umfang der Beanspruchung und Bindung des Arbeitnehmers durch eine vom Arbeitgeber veranlasste Tätigkeit oder Verrichtung.

Grundsätzlich darf die werktägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer acht Stunden nicht überschreiten; sie kann aber auf bis zu zehn Stunden verlängert werden, wenn innerhalb von sechs Kalendermonaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt acht Stunden werktäglich nicht überschritten werden (§ 3 ArbZG). Nach Beendigung der täglichen Arbeitszeit muss eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens elf Stunden eingehalten werden (§ 5 Abs. 1 ArbZG). Darüber hinaus sind Ruhepausen von insgesamt mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs und bis zu neun Stunden sowie Ruhepausen von insgesamt mindestens 45 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als neun Stunden zu gewähren (§ 4 ArbZG). Darüber hinaus dürfen Arbeitnehmer grundsätzlich nicht an Sonn- und gesetzlichen Feiertagen beschäftigt werden; von diesem Grundsatz enthält das Arbeitszeitgesetz einige Ausnahmen (§§ 9, 10 ArbZG).

Vergütungsrechtliche Arbeitszeit

Die vergütungsrechtliche Arbeitszeit richtet sich hingegen nach §§ 611, 611 a Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und beschreibt die Zeit, die Arbeitnehmer für jede vom Arbeitgeber verlangte Tätigkeit oder Maßnahme, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt, aufwenden.

Die Tarif- oder Arbeitsvertragsparteien können weithin regeln, dass bestimmte Arbeitszeiten, z. B. Dienstreise-, Umkleide-, Bereitschaftsdienst- und Rufbereitschaftszeiten anders, beispielsweise pauschal, vergütet werden. Zu beachten ist aber auch hier, dass das Mindestlohngesetz (MiLoG) der Autonomie der Vertragsparteien bei der Regelung von Pauschalvergütungen bzw. der Beschränkung der Vergütung Grenzen setzt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob jede einzelne Stunde tatsächlich mit dem Mindestlohn vergütet wird, sondern darauf, ob im monatlichen Durchschnitt der Mindestlohn pro Arbeitsstunde gewährt wird; dies hat das BAG mit Urteil vom 25. Mai 2016 (Az.: 5 AZR 135/16) entschieden.

Vergütungsrechtlich relevant ist auch das Thema Überstunden: In Arbeits- oder Tarifverträgen bzw. in Betriebsvereinbarungen kann geregelt werden, ob und in welchem Umfang Überstunden zu leisten sind und wie diese abgegolten werden. Besteht eine solche Regelung nicht, sind Beschäftigte grundsätzlich nicht zur Erbringung von Überstunden verpflichtet. Ausnahmen bilden Notsituationen, bei denen es um die Abwehr von Gefahren für die Betriebsorganisation geht.

In der Praxis werden nicht selten arbeitsvertragliche Klauseln verwendet, nach denen anfallende Überstunden mit dem Gehalt abgegolten sind und nicht zusätzlich vergütet werden. Derart pauschale Regelungen zur Abgeltung von Überstunden sind regelmäßig unwirksam (vgl. BAG, Urteil vom 1. September 2010 – 5 AZR 517/09). Für die Wirksamkeit von Überstundenabgeltungsregelungen ist es erforderlich, dass für Arbeitnehmer zweifelsfrei ersichtlich ist, in welchem Umfang Überstunden zu leisten sind. Der Arbeitgeber muss die Zahl der maximal abzuleistenden Überstunden genau beziffern oder angeben, bis zu wie viel Prozent der vereinbarten Wochenarbeitszeit maximal Überstunden abzuleisten sind. Dies ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn „erforderliche Überstunden“ oder „jedwede Überstunden“ mit dem Gehalt abgegolten sein sollen. Zulässig ist hingegen eine vertragliche Abgeltung zeitlich konkret begrenzter Überstunden (beispielsweise „zehn Überstunden pro Monat“ oder „Überstunden in Höhe von zehn Prozent der vertraglichen monatlichen Arbeitszeit“). 

Andere Regeln gelten für Beschäftigte, die Dienste höherer Art leisten oder Führungsaufgaben innehaben und nicht unter das Arbeitszeitgesetz fallen (z. B. Chefärzte und leitende Angestellte), sowie für Beschäftigte, die eine „deutlich hervorgehobene Vergütung“ erhalten, die oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung liegt. Zwar sind pauschale Überstundenabgeltungsklauseln auch gegenüber diesen Beschäftigten unwirksam. Besserverdienende Beschäftigte müssen jedoch erwarten, für eine vereinbarte vergleichsweise hohe Vergütung unbezahlte Überstunden leisten zu müssen, weshalb im Falle einer Pauschalabgeltung kein Vergütungsanspruch gemäß § 612 Abs. 1 BGB für Überstunden besteht (vgl. BAG, Urteil vom 17. August 2011 – 5 AZR 406/10). 

Arbeitnehmer, die eine Vergütung für geleistete Überstunden geltend machen, tragen regelmäßig die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Überstunden tatsächlich angefallen sind, d. h., sie müssen darlegen und beweisen, dass:

  • die Überstunden angefallen sind, also der Arbeitnehmer mehr Arbeit als vertraglich geschuldet geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers dazu bereitgehalten hat, und 
  • der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat.

Die erforderliche Differenzierung zwischen arbeitsschutzrechtlicher und vergütungsrechtlicher Arbeitszeit zeigt sich deutlich am Beispiel der folgenden Fallgruppen:

 Arbeitsschutzrechtliche Arbeitszeit (ArbZG)Vergütungsrechtliche Arbeitszeit (§ 611 a BGB)
Arbeitsweg

Grundsätzlich keine Arbeitszeit.
Ausnahmen:

  • Wegezeiten für Fahrten von der Betriebsstätte zu einer außerhalb des Betriebs gelegenen Arbeitsstätte und zurück. 
  • Wegezeiten vom Wohnort zu einer außerhalb des Betriebs gelegenen Arbeitsstätte, wenn der Arbeitnehmer auf Anordnung des Arbeitgebers oder aufgrund einer Vereinbarung mit diesem von seiner Wohnung aus direkt zu seiner Arbeitsstätte, bspw. zu einem Kunden, fährt.
  • Fahrten, die Arbeitnehmer ohne festen oder gewöhnlichen Arbeitsort zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages zurücklegen (EuGH, Urteil vom 10. September 2015 – C-266/14).

Grundsätzlich keine zu vergütende Arbeitszeit. 
Ausnahmen: 

  • Wegezeiten zur auswärtigen Arbeitsstelle, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit an einer auswärtigen Arbeitsstelle zu erbringen hat.
  • Zeiten für Fahrten, die zur Hauptleistungspflicht des Arbeitnehmers gehören (Lkw-Fahrer, Busfahrer, Piloten, Taxifahrer, Chauffeure etc.).
Dienstreisen 

Es ist zu differenzieren, ob der Arbeitnehmer verpflichtet ist, während der Dienstreise zu arbeiten, oder ob er über seine Zeit frei verfügen kann:

  • Bei Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln: nur dann Arbeitszeit, wenn der Arbeitnehmer während der Dienstreise auf Weisung des Arbeitgebers mit Arbeitsvorgängen beschäftigt ist (E Mails, Telefonate etc.). 
  • Sitzt der Arbeitnehmer dagegen selbst am Steuer und ist aktiv mit dem Beförderungsvorgang befasst, ist die Reisezeit Arbeitszeit, unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer daneben noch weitere Arbeiten ausführt.
    Es empfiehlt sich daher, soweit praktikabel, Arbeitnehmer für Dienstreisen auf öffentliche Verkehrsmittel zu verweisen und ihnen die Gestaltung der Zeit zu überlassen. Die Reisezeit gilt dann als Ruhezeit.
Grundsätzlich ist die Gesamtdauer der Reise zu vergüten, unabhängig davon, ob der Arbeitnehmer während der Dienstreise arbeiten muss oder er sie frei nutzen kann (BAG, Urteil vom 17. Oktober 2018 – 5 AZR 553/17). 
Ausnahmen: Abweichende Vergütungsregelung oder Ausschluss der Vergütung für Dienstreisezeiten im Arbeits- oder Tarifvertrag.
Umkleide- und Waschzeiten 

Grundsätzlich sind Umkleide- und Waschzeiten keine Arbeitszeit, wenn sie primär ein eigenes Bedürfnis erfüllen.
Ausnahmen: 

  • Der Arbeitgeber schreibt das Tragen bestimmter Kleidung vor und das Umziehen muss zwangsläufig im Betrieb erfolgen (etwa aus gesundheitlichen und hygienischen Gründen sowie zur Wahrung von Sicherheitsbelangen).
  • Das Tragen der Berufskleidung auf dem Weg zur Arbeit ist nicht zumutbar (weil besonders auffällige Kleidung etc.). 
  • Beginnt und endet die Arbeit mit dem Umkleiden, zählen die innerbetrieblichen Wege zur Arbeitszeit im Sinne des ArbZG, die dadurch veranlasst sind, dass der Arbeitgeber das Umkleiden nicht am Arbeitsplatz ermöglicht, sondern dafür eine vom Arbeitsplatz getrennte Umkleidestelle einrichtet.
  • Waschzeiten stellen Arbeitszeit dar, wenn sie einem fremden Bedürfnis dienen und nicht primär ein eigenes Bedürfnis erfüllen, so z. B., wenn der Arbeitgeber das Reinigen und Desinfizieren der Hände vor Arbeitsbeginn vorschreibt.

Grundsätzlich sind Wasch- und Umkleidezeiten vergütungspflichtige Arbeitszeit, sofern aus Sicht des Arbeitnehmers rein fremdnützig. 
Ausnahmen: 

  • Durch eine hinreichend klare Regelung im Tarif- oder Arbeitsvertrag kann die Vergütungspflicht abbedungen oder pauschaliert werden. 
Arbeitsbereitschaft 
(z. B. Verkaufspersonal beim Warten auf Kundschaft) 
Arbeitszeit, da sich der Arbeitnehmer für den Arbeitseinsatz bereithält und insoweit durch den Arbeitgeber beansprucht wird. Grundsätzlich Vergütungspflichtige Arbeitszeit.
Aber: Die Arbeitsvertrags-, Betriebs- oder Tarifvertragsparteien können für diese Zeiten geringere Entgelte vereinbaren.
Bereitschaftsdienst 
(Arbeitnehmer muss nicht unmittelbar am Arbeitsplatz anwesend sein, muss sich aber an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle innerhalb oder außerhalb des Betriebes aufhalten, damit er erforderlichenfalls seine volle Arbeitstätigkeit sofort oder zeitnah aufnehmen kann) 
Arbeitszeit, da der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber vollständig zur Verfügung steht.Grundsätzlich vergütungspflichtige Arbeitszeit. Besteht keine Vergütungsvereinbarung für Bereitschaftsdienste, ist nach § 612 Abs. 2 BGB die übliche Vergütung geschuldet, wobei grundsätzlich von der Vollarbeitsvergütung auszugehen ist (LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 4. Februar 2010 – 2 Sa 498/09). 
Aber: Es ist anerkannt und üblich, für Bereitschaftsdienstzeiten vor dem Hintergrund der geringen Beanspruchung nicht die volle Vergütung zu zahlen. Zulässig und empfehlenswert ist die arbeitsvertragliche Pauschalierung der Vergütung des Bereitschaftsdienstes nach dem voraussichtlichen Grad der Heranziehung zur Vollarbeit.
Rufbereitschaft 
(Arbeitnehmer hält sich zu Hause oder an einem frei gewählten Ort auf, verpflichtet sich aber, die Arbeit alsbald aufzunehmen, wenn erforderlich) 
Grundsätzlich keine Arbeitszeit. 
Arbeitszeit liegt nur dann vor, wenn der Arbeitnehmer konkret eine Arbeitsleistung erbringt. 
Grundsätzlich vergütungspflichtige Arbeitszeit. 
Aber: Die Vertragsparteien sind frei in ihrer Entscheidung, wie eine Rufbereitschaft zu vergüten ist. Regelungen zum Ausschluss der Vergütung oder zur geringeren Vergütung für Zeiten der Bereitschaft gemäß dem Grad der voraussichtlichen Heranziehung zur Vollarbeit sind zulässig.
Betriebsratstätigkeit Keine Arbeitszeit im Sinne des ArbZG, da das Gesetz nicht für Zeiten ehrenamtlicher Tätigkeit gilt.Nach § 37 Abs. 2 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) Freistellung von beruflicher Tätigkeit ohne Minderung des vereinbarten Arbeitsentgelts. 
Teilnahme an Betriebsversammlungen Arbeitszeit.

Vergütungspflichtige Arbeitszeit. 

 

Wie sind die aktuellen Gerichtsentscheidungen einzuordnen?

In jüngster Zeit sind eine Reihe einschlägiger Entscheidungen zum Thema Arbeitszeit ergangen. Ausgangspunkt war die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) über die Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung vom 14. Mai 2019 (Az.: C-55/18), die viel Aufmerksamkeit erregt und die Frage nach den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Arbeitszeiterfassung neu aufgeworfen hat. 

Die Entscheidung des EuGH vom 14. Mai 2019 

§ 16 Abs. 2 ArbZG verpflichtet Arbeitgeber in Deutschland, lediglich die über die werktägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehende Arbeitszeit der Arbeitnehmer aufzuzeichnen und für zwei Jahre zu dokumentieren. Weitergehende Zeiterfassungs- und Aufzeichnungspflichten ergeben sich etwa aus § 17 Abs. 1 MiLoG für geringfügig Beschäftigte und bestimmte Wirtschaftszweige sowie aus Tarifverträgen. Am 14. Mai 2019 entschieden die Luxemburger Richter, dass die EU-Staaten Arbeitgeber dazu verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Messung der täglichen Arbeitszeit einzuführen – hierfür genüge die Dokumentation der Überstunden allein nicht. Ohne ein solches System könne nicht gewährleistet werden, dass die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden und die Zahl der Überstunden verlässlich ermittelt würden und Arbeitnehmer in der Lage seien, ihre Rechte durchzusetzen. Die konkrete Ausgestaltung der Umsetzung obliegt den Mitgliedsstaaten. 

Im Anschluss entspann sich eine hitzige Diskussion darüber, inwieweit aus der Entscheidung des EuGH und der zugrundeliegenden Richtlinie bereits eine unmittelbare Handlungspflicht für Arbeitgeber folgt oder ob es ausschließlich am Gesetzgeber liegt, die Richtlinie am Maßstab der vom EuGH gestellten Anforderungen umzusetzen.

Hierzu im Detail unser Blogbeitrag.

Die Entscheidungen des Arbeitsgerichts Emden

Das Arbeitsgericht (ArbG) Emden nahm als erstes deutsches Gericht zu dieser Frage Stellung. Mit Urteil vom 20. Februar 2020 (Az.: 2 Ca 94/19) entschied das ArbG Emden, dass Arbeitgeber bereits unmittelbar zur Einrichtung eines entsprechenden Zeiterfassungssystems verpflichtet seien, ohne dass es dafür einer Umsetzung der Richtlinie und der Vorgaben des EuGH durch den Gesetzgeber bedürfe.

Bemerkenswert ist die Verknüpfung, die das ArbG Emden zwischen der vergütungsrechtlichen Arbeitszeitthematik und der arbeitsschutzrechtlichen Seite der Arbeitszeiterfassung herstellt: 

Sofern ein Mitarbeiter die Vergütung von Überstunden geltend mache und einklage, könne der Arbeitgeber seiner sogenannten sekundären Beweislast nur entsprechen, wenn er seiner sich aus Art. 31 Abs. 2 der Grundrechtecharta ergebenden Pflicht zur Einrichtung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems nachgekommen sei. Der Arbeitgeber könne die seitens des Mitarbeiters geltend gemachten und dargelegten Überstunden nur dann widerlegen, wenn er ein System zur Arbeitszeiterfassung vorhalte, das den Vorgaben und Anforderungen der Richtlinie entspreche. Das ArbG Emden bestätigte diese Sichtweise in einer weiteren Entscheidung am 24. September 2020 (Az.: 2 Ca 144/20) sowie in einem Teilurteil vom 9. November 2022 (Az.: 2 Ca 399/18). 

Die Entscheidungen des LAG Niedersachsen / des 5. Senats des BAG und des LAG Rheinland-Pfalz

Das LAG Niedersachsen (Urteil vom 6. Mai 2021 – 5 Sa 1292/20) hat unter Abänderung des Urteils des ArbG Emden sodann richtigerweise festgestellt, dass die Entscheidung des EuGH keine Auswirkungen auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess habe. Dem EuGH käme keine Kompetenz zur Entscheidung über Fragen der Vergütung zu. Der 5. Senat des BAG hat diese Rechtsprechung mit Urteil vom 4. Mai 2022 (Az.: 5 AZR 359/21) bestätigt und gleichermaßen festgestellt, dass die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit sich nicht auf die Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenvergütungsprozess auswirkt.

In diesem Sinne hat auch das LAG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19. Februar 2021 – 8 Sa 169/20) – in Ablehnung der Rechtsprechung des ArbG Emden – entschieden, dass eine Darlegungserleichterung bzw. die Umkehr der Darlegungslast nicht auf einen Verstoß des Arbeitgebers gegen die aus § 16 Abs. 2 ArbZG i. V. m. der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG folgende Pflicht zur Aufzeichnung der Arbeitszeit gestützt werden könne. Die europarechtlich begründeten Dokumentationspflichten dienten allein der – öffentlich-rechtlichen – Überwachung des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer. Der Normzweck des europarechtlichen Gesundheitsschutzes gehe nicht dahin, die Nachweisführung des Arbeitnehmers im Vergütungsrechtsstreit zu erleichtern, und könne es deshalb nicht rechtfertigen, dass man den Prozessgegner des darlegungspflichtigen Arbeitnehmers mit Nachteilen bei der Darlegungslast im Rechtsstreit über die Vergütung belegt.

Zur Rechtsprechung des ArbG Emden sowie der LAG siehe unseren Blogbeitrag

Nachdem weder die Große Koalition noch die Ampel-Regierung in dieser Hinsicht aktiv geworden ist, hat jüngst der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts für Furore gesorgt. 

Die Entscheidung des 1. Senats des BAG 

Mit Beschluss vom 13. September 2022 (Az.: 1 ABR 22/21) hat der 1. Senat des BAG lapidar festgestellt, dass eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung längst bestehe – sie folge unmittelbar aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). In dem Verfahren ging es eigentlich um die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung zusteht. Während das LAG Hamm als Vorinstanz ein solches Initiativrecht des Betriebsrates bejahte, hat das BAG ein solches im Ergebnis abgelehnt. Begründet hat das BAG dies damit, dass der Arbeitgeber längst gesetzlich zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sei, sodass kein Raum mehr für eine Mitbestimmung durch den Betriebsrat bestehe. Diese Pflicht zur Arbeitszeiterfassung folgert das BAG aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG. Hieraus ergibt sich, dass der Arbeitgeber zur Durchführung von Maßnahmen des Arbeitsschutzes für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel hierfür bereitzustellen hat; dies schließe auch die Erfassung der Arbeitszeit ein.

Damit besteht bereits ab sofort für Arbeitgeber eine unmittelbare Verpflichtung zur Erfassung der Arbeitszeit. Gleichwohl: Ein Verstoß gegen die sich aus § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ergebende Pflicht zur Einführung und Nutzung eines Arbeitszeiterfassungssystems ist nicht unmittelbar bußgeldbewehrt und die im Arbeitszeitgesetz enthaltenen Bußgeld- und Strafvorschriften beziehen sich lediglich auf die Pflicht zur Aufzeichnung von Arbeitszeiten, die über acht Stunden täglich hinausgehen, nicht aber auf Verstöße gegen § 3 Abs. 2 S. 1 ArbSchG

Weitere Details zur Entscheidung des BAG auch in unserem Blogbeitrag.

Gerne empfehlen wir Ihnen auch unseren aktuellen Podcast „Einfach Arbeitsrecht: BAG: Arbeitszeiterfassung für alle?“.

Gesetzgeberische Entwicklungen 

Der Ball liegt folglich unverändert im Feld des Gesetzgebers, dem es obliegt, die Richtlinie am Maßstab der vom EuGH gestellten Anforderungen umzusetzen und das Arbeitszeitgesetz zu reformieren. In der Vorhabenplanung des BMAS für das erste Halbjahr 2023 ist jedenfalls schon einmal eine Kabinettsbefassung zum Thema Arbeitszeitgesetz für das erste Quartal 2023 vorgesehen. Mit Spannung wird zudem erwartet, ob und inwieweit der Gesetzgeber die von der Richtlinie vorgesehenen Spielräume nutzt, um die konkreten Modalitäten zur Umsetzung des geforderten Zeiterfassungssystems, unter Berücksichtigung des jeweiligen Tätigkeitsbereichs und der Eigenheiten der Unternehmen, festzulegen. Es bleibt ebenfalls abzuwarten, ob sich eine Klarstellung zur unveränderten Möglichkeit von Vertrauensarbeitszeit im Gesetzesentwurf finden wird. Es darf jedenfalls optimistisch davon ausgegangen werden, dass das Modell der Vertrauensarbeitszeit, wonach Arbeitnehmer selbstbestimmt ihre Arbeitszeit erfassen – ungeachtet einer gesetzlichen Zeiterfassungspflicht –, auch weiterhin möglich sein wird.


Dieser Artikel ist Teil des Update Arbeitsrecht, das Sie hier abonnieren können. Bei Fragen zum Artikel kontaktieren Sie gerne das Redaktionsteam Arbeitsrecht (Dr. Alexander Bissels, Dr. Stefanie Klein-Jahns, Dr. Franziska Reiß und Sören Seidel) unter: Update-Arbeitsrecht@cms-hs.com

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