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Die Reform des Vertriebskartellrechts steht an: Was ist zu erwarten?

Update Gewerblicher Rechtsschutz & Kartellrecht 12/2021

Dezember 2021

Die Gruppenfreistellungsverordnung der EU-Kommission für vertikale Wettbewerbsbeschränkungen (Vertikal-GVO) ist von herausragender Bedeutung für die kartellrechtliche Beurteilung von Vertriebsverträgen. Entspricht ein Vertriebsvertrag der Vertikal-GVO in allen Punkten, ist er im Geltungsbereich der EU (und des EWR) kartellrechtlich „wasserdicht“. Vor dem Hintergrund des Auslaufens der geltenden Vertikal-GVO zum 31. Mai 2020 hat die EU-Kommission den Entwurf einer überarbeiteten Vertikal-GVO vorgelegt, ebenso überarbeitete Leitlinien zu der Vertikal-GVO (Vertikal-Leitlinien).

Die Entwürfe warten mit überraschenden Neuerungen auf, die bereits zu eingehenden Diskussionen geführt haben. Die für die Vertriebspraxis wesentlichen Themen sollen nachstehend kurz erläutert werden; mehr findet sich in dem Aufsatz von Bauer/Rahlmeyer/Schöner in WuW 2021, 606 ff.

Dualer Vertrieb: erhebliche Verschärfungen drohen   

Beim dualen Vertrieb vertreibt ein Anbieter seine Produkte zum einen über unabhängige Vertriebshändler und zum anderen direkt an Endkunden. Auch wenn es damit zu einem Wettbewerbsverhältnis auf der Handelsebene kommt, bleibt die Vertikal-GVO nach geltendem Recht anwendbar. Das soll sich nach Meinung der Kommission nun ändern, weil sich der zweigleisige Vertrieb infolge der Zunahme des Online-Handels zum vorherrschenden Vertriebsmodell entwickelt habe. Konkret ist Folgendes vorgesehen:

  • Uneingeschränkt gruppenfreigestellt ist der duale Vertrieb nur dann, wenn auf die Beteiligten ein Marktanteil von zusammen nicht mehr als 10 % entfällt.
  • Bei einem höheren Marktanteil (bis zur generellen Marktanteilsschwelle der Vertikal-GVO von 30 %) bleiben zwar die vertikalen Aspekte freigestellt, nicht aber der Informationsaustausch zwischen den beteiligten Unternehmen, der vielmehr gesondert nach Maßgabe der Horizontal-Leitlinien der Kommission zu prüfen sei.
  • Generell von der Gruppenfreistellung ausgenommen wird der duale Vertrieb durch hybride Online-Plattformen. Das sind Plattformen, die solche Waren oder Dienstleistungen im Wettbewerb mit Unternehmen verkaufen, für die sie auch Vermittlungsleistungen anbieten. Hierbei handelt es sich nicht etwa um eine „lex Amazon“, wie man zunächst meinen könnte. Vielmehr gibt es auch anderweitig (etwa in der Automobilwirtschaft) eine Vielzahl kleinerer hybrider Plattformen, von denen einige von Herstellern, andere von größeren Händlern betrieben werden, die ebenfalls vom sicheren Hafen der Gruppenfreistellung gleichsam auf die offene See geschickt würden.

Ob all das tatsächlich in der neuen Vertikal-GVO stehen wird, bleibt abzuwarten. Möglicherweise überdenkt die Kommission ihre Pläne nochmals, zumal sie bisher auch den Beweis schuldig geblieben ist, ob tatsächlich ein spürbarer wettbewerblicher Schaden mit dem dualen Vertrieb einhergeht, der nicht den Interbrand-Wettbewerb, sondern nur den Intrabrand-Wettbewerb berührt.

Internetvertrieb: Lockerungen winken

Nach Beobachtung der Kommission hat sich der Online-Verkauf zu einem gut funktionierenden Vertriebskanal entwickelt, weshalb der bisherige besondere wettbewerbsrechtliche Schutz nicht mehr erforderlich sei. Dieser Befund wird wie folgt umgesetzt:

  • Doppelpreissysteme (bei denen der Händler für Produkte, die er online weiterverkaufen will, einen höheren Großhandelspreis entrichten muss als für solche Produkte, die er offline weiterverkaufen will) werden nicht mehr als Kernbeschränkungen eingestuft. Voraussetzung dafür sei aber, dass Doppelpreissysteme Anreize für angemessene Investitionen schaffen und unterschiedliche Kosten der Vertriebskanäle widerspiegeln.
  • Der Grundsatz, dass Selektionskriterien für den Online- und Offline-Verkauf gleichwertig sein müssen, soll nicht mehr zur Anwendung kommen. Dementsprechend sollen künftig auch indirekte Maßnahmen zur Beschränkung des Online-Verkaufs grundsätzlich unter die Gruppenfreistellung fallen.

Bei beiden „Privilegien“ wird allerdings ein Generalvorbehalt gemacht: Verboten wird jedwede Beschränkung des Online-Handels durch Anbieter, die bezweckt, die Abnehmer oder ihre Kunden daran zu hindern, das Internet wirksam für den Online-Verkauf bzw. Online-Einkauf von Waren oder Dienstleistungen zu nutzen.

Nach dem gleichen Maßstab sollen auch Vertragsklauseln beurteilt werden, die es Einzelhändlern untersagen, Preisvergleichsportale/Preismaschinen durch Bereitstellung entsprechender Schnittstellen zu unterstützen. Ähnlich dem Asics-Urteil des BGH (KVZ 41/17) soll es darauf ankommen, ob die Regelung darauf abzielt, die Nutzung von Online-Werbediensten wirksam einzuschränken; ist das der Fall, soll die Gruppenfreistellung nicht greifen.

Die Nutzung von Drittplattformen kann einem Händler im Einklang mit dem Coty-Urteil des EuGH (C-230/16) grundsätzlich untersagt werden, wobei eine Begrenzung dieses Grundsatzes auf Luxusprodukte – wie vom Bundeskartellamt präferiert – von der Kommission nicht vorgesehen ist.

Alleinvertrieb: mehr Gestaltungsspielraum

In zwei praxisrelevanten Punkten soll der Anwendungsbereich der Vertikal-GVO für Alleinvertriebssysteme erweitert werden:

  • Bisher musste der Hersteller ein Gebiet oder eine Kundengruppe einem einzigen Händler zugewiesen haben, um außerhalb dieses Gebiets oder dieser Kundengruppe aktiven Vertrieb ausschließen zu können. Künftig soll es auch ausreichen, wenn es sich um eine „begrenzte Zahl“ von Händlern handelt.
  • Ferner soll der Anbieter berechtigt werden, seine Abnehmer zu verpflichten, die ihnen auferlegte Beschränkung des aktiven Verkaufs an Kunden auch ihrerseits den Kunden aufzuerlegen.

Enge Bestpreis-Klauseln gruppenfreigestellt, weite nicht

Weite Bestpreis-Klauseln verbieten es einem Unternehmen (z. B. einem Hotelbetreiber), auf irgendeinem anderen Vertriebskanal bessere, d. h. für den Kunden niedrige Preise (z. B. für Hotelübernachtungen) anzubieten als auf dem Portal seines Vertragspartners. Enge Bestpreis-Klauseln begrenzen dieses Verbot auf den eigenen Internet-Auftritt des Verpflichteten (z. B. auf der Website eines Hotelbetreibers). Der BGH hat beide Varianten als unzulässig beurteilt.

Die Kommission wartet mit einer differenzierenden Lösung auf: Weite Bestpreis-Klauseln (von ihr Paritätsverpflichtungen genannt) sollen in die Liste der nicht freigestellten Beschränkungen aufgenommen werden, allerdings nicht in die Liste der schwarzen Klauseln, bei deren Vereinbarung die GVO-Freistellung gänzlich entfällt. Demgegenüber sollen enge Paritätsklauseln gruppenfreigestellt sein – natürlich unter der Voraussetzung, dass die 30 %-Marktanteilsgrenze nicht überschritten wird.

Wettbewerbsverbote mit Evergreen-Klauseln: nunmehr endlich gruppenfreigestellt

Wettbewerbsverbote, die für eine unbestimmte Dauer oder für eine Dauer von mehr als fünf Jahren vereinbart werden, sind nicht freigestellt. Bisher galten Wettbewerbsverbote, deren Dauer sich über den Zeitraum von fünf Jahren hinaus stillschweigend verlängert, als für eine unbestimmte Dauer vereinbart. Dieser Satz in der Vertikal-GVO soll gestrichen werden, was eine große Erleichterung für die Vertragspraxis bedeutet.

Eine Einschränkung macht die Kommission allerdings: Evergreen-Klauseln sollen nur dann in den Genuss der Gruppenfreistellung kommen, wenn der Abnehmer die betreffende Vereinbarung mit einer angemessenen Kündigungsfrist und zu angemessenen Kosten wirksam neu aushandeln oder kündigen kann.

Wie geht es weiter?

Aus Kommissionskreisen verlautet, dass die finale Fassung der neuen Vertikal-GVO und der Vertikal-Leitlinien (erst) für Mai 2022 vorgesehen ist. So lange wird man sich also gedulden müssen. Immerhin zeichnet sich damit ab, dass eine Verlängerung der bestehenden Vertikal-GVO nicht erwogen wird. Abzuwarten bleibt, ob über redaktionelle Korrekturen hinaus auch inhaltliche Modifikationen von der Kommission vorgenommen werden. Auf die Gefahr hin, dass es ganz anders kommt, sei folgende Prognose gewagt: Bei dem dualen Vertrieb wird noch „geschraubt“, ansonsten und namentlich beim Online-Vertrieb wird es keine substanziellen Änderungen mehr geben.

Dieser Artikel ist Teil des Update Gewerblicher Rechtsschutz und Kartellrecht, welches Sie hier abonnieren können.

Autoren

Foto vonDietmar Rahlmeyer
Dr. Dietmar Rahlmeyer
Partner
Düsseldorf