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DSGVO-Massenverfahren vor der Tür?

Das deutsche Recht kannte bisher kaum Kollektivverfahren, also das Einklagen eines Anspruchs vieler Personen gegenüber einem Unternehmen in einem einzigen Gerichtsverfahren. Lediglich vereinzelt gab es hierzulande Verfahren in Gestalt der Musterfeststellungs- oder Unterlassungsklage. Diese gewähren den Einzelnen aber keine direkten Zahlungsansprüche. Das dürfte sich 2023 ändern: Bald kann in Deutschland gegen Unternehmen in bestimmten Fällen eine Vielzahl von Ansprüchen von Einzelpersonen gebündelt in einem gerichtlichen Verfahren geltend gemacht werden. Relevant sind solche Verfahren bei Streuschäden, die zwar sehr viele Personen treffen, aber für sich genommen häufig zu gering sind, um als Einzelperson zu klagen. Selbst kleinere Beträge addieren sich in der Masse schnell zu einer empfindlichen Summe. Möglich macht die kollektive Rechtsdurchsetzung eine bis 2023 in nationales Recht umzusetzende EU-Richtlinie, die anerkennt, dass aufgrund der Digitalisierung immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher von denselben unerlaubten Praktiken betroffen sind.

EU-Verbandsklagerichtlinie ermöglicht Klagen zum Schutz der kollektiven Verbraucherinteressen

Die Ende 2020 in Kraft getretene EU-Verbandsklagerichtlinie sieht für qualifizierte Einrichtungen wie Verbraucherschutzverbände die Möglichkeit vor, Unterlassungs- oder Schadensersatzansprüche für viele Verbraucherinnen und Verbraucher gegenüber einem Unternehmen gesammelt einzuklagen, das gegen EU-Verbraucherschutzvorschriften verstößt. Zu den verbraucherschützenden Vorschriften zählt auch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). 

Die Mitgliedstaaten müssen die Richtlinie bis zum 25. Dezember 2022 in nationales Recht umsetzen und die neuen Vorschriften ab dem 25. Juni 2023 anwenden. Der deutsche Gesetzgeber stand vor der Aufgabe, eine zwischen vielen Interessen vermittelnde Lösung zu finden: Bei der Überführung der Vorgaben der Richtlinie in ein Rechtssystem, dem Massenverfahren bisher eher fremd waren, sind die Interessen von Unternehmen, Verbraucherinnen und Verbrauchern und Verbraucherschutzverbänden in Einklang zu bringen.

Umsetzung in Deutschland: Mehr Möglichkeiten für Verbraucherorganisationen

Das Bundesjustizministerium hat im September 2022 einen Entwurf für ein entsprechendes Gesetz vorgelegt. Dieser enthält das grenzüberschreitende Instrument der Abhilfeklage, die Verbraucherschutzverbände führen können, wenn sich Verbraucherinnen und Verbraucher in gleichartigen Fällen zur Geltendmachung der Ansprüche zusammenschließen. Über ein Register können weitere Privatpersonen oder kleine Unternehmen Ansprüche anmelden. Die betroffenen Branchen reichen vom Finanz- und Telekommunikationssektor über Handel, Umwelt und Energie sowie Tourismus bis hin zu digitalen Dienstleistungen. Branchenübergreifend wird besonders das Datenschutzrecht relevant sein, da Verstöße häufig eine sehr große Personenzahl betreffen – beispielsweise bei einem Cybervorfall.

2023 erstmals möglich: DSGVO-Sammelklagen

Spätestens seit der DSGVO lösen datenschutzrechtliche Vorgaben in jedem Unternehmen Handlungsbedarf aus und Verstöße bergen ein hohes Kosten- und Bußgeldrisiko. Mit Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie kommt auf Unternehmen nun eine weitere Herausforderung zu.

In Deutschland wird für Verbände die Möglichkeit „echter“ DSGVO-Sammelklagen in Massenverfahren bestehen, womit Klagen, die sich auf datenschutzrechtliche Schadensersatznormen stützen, in neuem Ausmaß auf Unternehmen zukommen. Bei Verstößen gegen die DSGVO haben die betroffenen Personen einen Anspruch auf Schadensersatz gegenüber den Verantwortlichen. Deutsche Gerichte sprachen einzelnen Betroffenen gestützt auf Art. 82 DSGVO bereits Ansprüche bis zu EUR 5.000 zu (eine Rechtsprechungsübersicht finden Sie in unserem Blog). 

Unter anderem Datenverarbeitungen (etwa aufgrund unwirksamer Einwilligungen in Cookie-Bannern) und internationale Datentransfers ohne Rechtsgrundlage, unzureichende Auskünfte nach Art. 15 DSGVO sowie stetig zunehmende Cybervorfälle mit Datenabfluss können Schadensersatzansprüche auslösen. Sobald ein Fall mehr als 50 Personen betrifft, können die Ansprüche gebündelt gegen ein Unternehmen geltend gemacht werden.

Ausblick und Empfehlung für 2023

Nicht nur die Umsetzung der EU-Verbandsklagerichtlinie wird Auswirkungen auf datenschutzrechtliche Zivilprozesse haben. Der BGH hat 2022 zwei Verfahren verhandelt, in denen die Befugnis zur Verfolgung von Verstößen gegen das Datenschutzrecht durch wettbewerbsrechtliche Unterlassungsansprüche zum einen durch Verbraucherschutzverbände und zum anderen durch Wettbewerber in Frage stand. Im November 2022 entschied sich der BGH im erstgenannten Fall zu einer erneuten Vorlage an den EuGH. Im zweiten Verfahren wird das Urteil im Januar 2023 erwartet.

Für die zweite Jahreshälfte 2023 sowie für die Folgejahre ist ein Anstieg der auf DSGVO-Verstöße gestützten Verfahren zu erwarten. Auf die neuen Prozessrisiken sollten sich Unternehmen rechtzeitig einstellen: Eine DSGVO-konforme Aufstellung des Unternehmens wird als präventive Maßnahme noch wichtiger. Daneben sollten Strategien entwickelt werden, um sich im Ernstfall effektiv gegen die neuen Verfahrensarten verteidigen zu können und um datenschutzrechtliche Ansprüche gar nicht erst entstehen zu lassen.

In unserem Blog informieren wir Sie laufend über spannende datenschutzrechtliche News.

Insight

Autoren

Philippe Heinzke
Philippe Heinzke, LL.M.
Partner
Rechtsanwalt
Düsseldorf
Dr. Reemt Matthiesen
Partner
Rechtsanwalt
München
Julia Dreyer
Dr. Julia Dreyer
Senior Associate
Rechtsanwältin
Hamburg
07/12/2022
2023 - Themen, die Sie bewegen werden
Das vergangene Jahr 2022 war in vielerlei Hinsicht eine Zeitenwende. Aufgrund des schrecklichen Krieges in der Ukraine rückten Themen in den Fokus, über die sich Gesellschaft, Politik und Wirtschaft zuvor zu wenig Gedanken gemacht hatten, und fast alle Unternehmen mussten sich in vielen Punkten auf eine neue Realität einstellen. Wir sind jedoch nicht nur durch die multiplen Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft – von Energie über Inflation bis hin zur Lie­fer­ket­ten­pro­ble­ma­tik – herausgefordert, sondern sehen die Unternehmenswelt seit geraumer Zeit auch einem Zuwachs an komplexer Regulatorik ausgesetzt, mit der Sie alle in der täglichen Arbeit umgehen müssen. Die Erfüllung dieser weiterhin steigenden Anforderungen ist nicht nur unter dem Gesichtspunkt allgemeiner Compliance, sondern auch angesichts nachhaltiger Wett­be­werbs­fä­hig­keit eine der zentralen Her­aus­for­de­run­gen für die deutsche und europäische Wirt­schaft. The­men wie der Weg zur Kli­ma­neu­tra­li­tät, neue Ge­schäfts­mo­del­le aufgrund der Digitalisierung und der Fach­kräf­te­man­gel werden die meisten Unternehmen auch im kommenden Jahr beschäftigen – zusammen mit den Her­aus­for­de­run­gen, welche die begonnene Teilentflechtung der globalen Abhängigkeiten mit sich bringt. Hier steckt aber auch Potenzial, das wir gemeinsam mit Ihnen, unseren Mandantinnen und Mandanten, heben können. Wir unterstützen Sie aktiv dabei, den bestehenden Rechtsrahmen zur bestmöglichen Gestaltung Ihres un­ter­neh­me­ri­schen Alltags zu nutzen und Ihre Innovationskraft zu erhalten.Über die voraussichtlich wichtigsten Themen des Jahres 2023 haben wir für Sie einen Überblick zu­sam­men­ge­stellt. Auch im kommenden Jahr bleiben wir an Ihrer Seite und freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit mit Ihnen!

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